Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
wissen, wo das Getreide liegt, wenn ihr es nicht selbst herausgebt, dann holen wir es uns mit Gewalt. Beschlagnahmen es im Namen der Revolution.‹
Die Versammlung war zu Ende, die ganze Familie versammelte sich; Vater hatte fünf Brüder, sie alle sind später im Großen Vaterländischen Krieg gefallen, genau wie Vater. Ja, sie setzten sich also zu Tisch – es gab die traditionellen sibirischen Pelmeni. Die Bänke standen am Fenster. Mutter saß mit einer Schulter zum Fenster, mit der anderen zu Vater, und wo Vater saß, war kein Fenster. Es war April ... In Sibirien gibt es um diese Zeit noch Nachtfröste. Mutter fror wahrscheinlich. Das habe ich später begriffen, als ich erwachsen war. Sie stand auf, warf sich Vaters Jacke über und gab mir die Brust. Da schoss jemand durchs Fenster. Auf Vater, er zielte ja auf die Jacke ... Mutter sagte nur noch: ›Pa...‹ und ließ mich auf die heißen Pelmeni fallen ... Sie war vierundzwanzig ...
Im selben Dorf war mein Großvater Vorsitzender des Dorfsowjets. Er wurde mit Strychnin vergiftet, das haben sie ihm ins Wasser geschüttet. Ich besitze noch ein Foto von Großvaters Beerdigung. Über dem Sarg hängt ein Fahnentuch, darauf steht: ›Gefallen von der Hand des Klassenfeindes.‹
Mein Vater war Held des Bürgerkriegs, Kommandeur eines Panzerzuges, der gegen die Meuterei des tschechoslowakischen Korps eingesetzt war. Einunddreißig bekam er den Rotbannerorden. Den hatten damals nur wenige, besonders bei uns in Sibirien. Das war eine große Ehre, eine große Anerkennung. Vater hatte neunzehn Verwundungen, er hatte keine unversehrte Stelle am Körper. Mutter hat erzählt – nicht mir natürlich, sondern Verwandten –, dass die Weißtschechen Vater zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt hatten. Sie bat um eine Besuchserlaubnis, da war sie im letzten Monat schwanger mit Tassja, meiner älteren Schwester. Dort im Gefängnis war ein ganz langer Flur, und sie durfte nicht zu Vater laufen, sie sagten zu ihr: ›Kriech, du Bolschewistensau! Kriech!‹ Und sie ist ein paar Tage vor der Entbindung über diesen Zementboden gekrochen. So haben sie ihr den Besuch erlaubt. Sie hat Vater nicht erkannt, er war ganz grau geworden ...
Konnte ich da gleichgültig herumsitzen, wo der Feind wieder in mein Land gekommen war? Ich, die in einer solchen Familie aufgewachsen war, mit einem solchen Vater? Ich bin doch sein Fleisch und Blut ... Er hat viel mitgemacht ... Siebenunddreißig wurde er denunziert, man wollte ihn verleumden. Einen Volksfeind aus ihm machen. Na ja, die schrecklichen Stalin’schen Säuberungen ... Aber er erreichte eine Audienz bei Kalinin, und sein guter Name wurde rehabilitiert. Meinen Vater kannten alle.
Aber das erfuhr ich auch erst später ...
Also – das Jahr einundvierzig. Mein letzter Schultag. Wir hatten alle unsere Pläne, unsere Träume, na ja, wir waren eben Mädchen. Nach dem Abschlussball fuhren wir über den Ob auf eine Insel. Wir waren so fröhlich, so glücklich ... Sozusagen noch ungeküsst, ich hatte noch nicht einmal einen Freund. Dann kamen wir zurück, nach dem Sonnenaufgang auf der Insel ... Die ganze Stadt war in Aufruhr, die Menschen weinten. Überall hieß es: ›Krieg!‹ Überall lief das Radio. Wir begriffen überhaupt nichts. Krieg? Wir waren so glücklich, wir hatten so große Pläne: Wir wollten studieren, etwas werden. Und nun auf einmal Krieg! Die Erwachsenen weinten, doch wir erschraken nicht, wir versicherten einander, es würde kein Monat vergehen, und wir hätten ›es den Faschisten gezeigt‹ – vor dem Krieg sangen alle dieses Lied. Dass wir auf fremdem Territorium kämpfen würden ...
Das Begreifen fing an, als die ersten Gefallenen-Meldungen eintrafen ...
Meinen Vater holten sie nicht an die Front. Aber er lief immer wieder ins Wehrkomitee. Dann ging auch er. Und das bei seiner Gesundheit, bei seinen grauen Haaren, bei seinen Lungen: Er hatte Tuberkulose. Und sein Alter? Aber er ging. Er meldete sich für die Stählerne oder, wie sie auch genannt wurde, die Stalin’sche Division, dort waren viele Sibirier. Auch wir glaubten, ohne uns sei der Krieg kein richtiger Krieg, wir müssten ebenfalls kämpfen. Her mit einer Waffe! Wir liefen ins Wehrkomitee. Und am zehnten Februar ging ich an die Front. Meine Stiefmutter weinte sehr: ›Valja, geh nicht. Was tust du? Du bist doch so schwach, so dünn, was bist du schon für ein Soldat?‹ Ich war unterentwickelt, lange, sehr lange. Nachdem Mama getötet worden war. Bis
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