Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
erinnere mich mehr an das Helle. Das Erhabene.
Ich bin im Krieg besser geworden ... Als Mensch bin ich dort besser geworden, weil es dort viel Leid gab. Ich habe viel Leid gesehen und selbst viel gelitten. Im Krieg wird alles Unwichtige sofort beiseitegefegt, es ist überflüssig. Aber der Krieg hat sich gerächt ... Wir wagen nicht, uns das einzugestehen ... Es zu erkennen ... Nicht alle unsere Töchter sind glücklich geworden. Und zwar deshalb: Ihre Mütter, die Frontsoldatinnen, haben sie so erzogen, wie sie selbst an der Front erzogen wurden. Und die Väter auch. Mit derselben Moral. An der Front aber war der Mensch wie gesagt gleich zu erkennen: Wie er ist, was er wert ist. Dort kann man sich nicht verstecken. Ihre Töchter hatten keine Ahnung, dass es im Leben anders sein kann als bei ihnen zu Hause. Niemand hatte sie vor der Kehrseite der Welt gewarnt. Wenn diese Mädchen heirateten, gerieten sie oft an Lumpen, die sie betrogen, weil es so leicht war, sie zu betrügen. So ging es vielen Kindern unserer Frontkameraden. Auch unserer Tochter ...«
»Den Kindern haben wir seltsamerweise nicht vom Krieg erzählt«, sagt Olga Wassiljewna nachdenklich. »Ich habe auch meine Ordensbänder nicht getragen. Nach einem bestimmten Vorfall habe ich sie abgerissen und nie mehr angelegt. Ich war nach dem Krieg Direktorin einer Brotfabrik. Einmal komme ich zu einer Sitzung, und die Leiterin des Trusts, also eine Frau, sieht meine Ordensleiste und sagt vor den anderen zu mir: ›Wieso steckst du die alle an, wie ein Mann?‹ Sie selbst hatte einen Arbeitsorden, den trug sie immer am Jackett, aber meine Kriegsauszeichnungen gefielen ihr aus irgendeinem Grund nicht. Als wir anschließend im Büro allein waren, sagte ich ihr auf Seemannsart meine Meinung; sie war beschämt, aber seitdem mochte ich meine Orden nicht mehr tragen. Auch jetzt stecke ich sie nicht mehr an. Obwohl ich stolz darauf bin.
Erst Jahrzehnte nach dem Krieg schrieb die bekannte Journalistin Vera Tkatschenko in der Prawda über uns. Darüber, dass wir auch im Krieg waren. Und dass es Frontsoldatinnen gibt, die allein geblieben sind, ohne Familie, und bis heute keine Wohnung haben. Dass wir bei diesen heiligen Frauen in der Schuld stehen. Da fing man allmählich an, die Frauen, die an der Front gewesen waren, zu beachten. Sie waren um die vierzig, fünfzig Jahre alt und lebten in Wohnheimen. Endlich teilte man ihnen Wohnungen zu. Meine Freundin ... Ihren Namen nenne ich nicht, sonst ist sie vielleicht gekränkt ... Sie war Militärfeldscherin ... Dreimal verwundet. Nach dem Krieg studierte sie Medizin. Sie hatte keine Angehörigen mehr, alle waren umgekommen. Sie war bettelarm, ging putzen, um sich durchzubringen. Doch sie sagte niemandem, dass sie Kriegsinvalidin ist, sie zerriss alle Papiere. Ich habe sie gefragt: ›Warum hast du sie zerrissen?‹ Sie weinte: ›Wer würde mich denn so heiraten?‹ – ›Na ja‹, sagte ich, ›da hast du recht.‹ Da weinte sie noch lauter: ›Jetzt könnte ich die Papiere gebrauchen. Ich bin schwer krank.‹ Können Sie sich das vorstellen?
Zum fünfunddreißigsten Jahrestag des Sieges wurden zum ersten Mal hundert Seeleute von allen Flottenteilen nach Sewastopol eingeladen, in die berühmte Marinestadt, darunter auch drei Frauen. Zwei davon waren meine Freundin und ich. Der Flottenadmiral verbeugte sich vor jeder von uns, sagte uns öffentlich Dank und küsste uns die Hand.«
»Aber warum haben Sie Ihren Kindern nie vom Krieg erzählt?«
Olga Wassiljewna schweigt. Saul Genrichowitsch antwortet:
»Der Krieg war noch zu nah und zu schrecklich, um sich daran zu erinnern. Wir wollten die Kinder vor diesem Grauen bewahren.«
»Wollten Sie vergessen?«
»Das können wir nicht vergessen. Am Tag des Sieges, weißt du noch, Olga, die uralte Mutter mit dem genauso uralten Schild um den Hals: ›Ich suche Tomas Wladimirowitsch Kulnew, verschollen 1942 im belagerten Leningrad.‹ Man sah ihr an, dass sie weit über siebzig war. Wie viele Jahre suchte sie ihn schon? Dieses Foto würde ich allen zeigen, die heute sagen: Wie lange kann man denn noch vom Krieg reden? Und Sie sagen – vergessen ...«
»Ich wollte vergessen. Ich möchte vergessen«, sagt Olga Wassiljewna langsam und fast flüsternd. »Schreiben Sie das ruhig so: Sich an den Krieg erinnern heißt, weiter sterben. Sterben und sterben ...«
In meiner Erinnerung sehe ich sie immer zu zweit, wie auf den Frontfotos.
»Ein Telefonhörer kann nicht schießen«
Mit
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