Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
ich fünf war, konnte ich nicht laufen ... Doch auf einmal war die Kraft da!
    Zwei Monate waren wir in Güterwaggons unterwegs. Zweitausend Mädchen, eine ganze Kolonne. Die sibirische Kolonne. Begleitet wurden wir von Offizieren, die uns ausbildeten. Wir lernten Nachrichtenübermittlung. Wir erreichten die Ukraine, dort wurden wir zum ersten Mal bombardiert. Wir waren gerade in der Entlausung, im Bad. Als wir uns duschen gingen, da hatte ein älterer Mann Dienst, der war für das Bad verantwortlich. Wir genierten uns vor ihm, na ja, wir waren eben Mädchen, noch blutjung. Doch als der Bombenangriff losging, da stürmten wir alle zu ihm, Hauptsache Rettung. Wir zogen uns mehr schlecht als recht an, ich wickelte mir das Handtuch um den Kopf, ein rotes Handtuch, und rannten raus. Der Oberleutnant, auch ein ganz junger Kerl, brüllte: ›Mädchen, in den Bunker! Werfen Sie das Handtuch ab! Sie verraten die Tarnung ...‹
    Ich lief weg. ›Ich verrate gar nichts! Meine Mama hat mir beigebracht, nicht mit nassen Haaren rumzulaufen.‹
    Nach dem Bombenangriff kam er zu mir. ›Warum gehorchst du mir nicht? Ich bin dein Kommandeur.‹
    Ich glaubte ihm nicht. ›Das fehlte noch, du und mein Kommandeur!‹
    Ich zankte mich mit ihm wie mit einem kleinen Jungen. Wir waren gleichaltrig.
    Wir bekamen Mäntel, die waren groß und dick, wir konnten darin nicht laufen, wir walzten uns darin voran wie Strohpuppen. Anfangs gab es nicht einmal Stiefel für uns. Das heißt, es gab welche, aber nur in Männergrößen. Dann bekamen wir andere, neue – der Schuh rot, der Schaft aus schwarzem Kunstleder. Wie haben wir damit angegeben! Wir waren alle dünn, die Männerblusen schlotterten uns lose am Leib. Wer schneidern konnte, der nähte sich die Feldbluse passend ab. Aber das reichte uns noch nicht. Wir waren eben Mädchen! Na ja, also ließ der Hauptfeldwebel den Schneider Maß nehmen. Zum Lachen und zum Weinen. Der Bataillonskommandeur kam: ›Na, hat euch der Hauptfeldwebelmit eurem Frauenkram versorgt?‹ Der Hauptfeldwebel darauf: ›Ich habe Maß genommen. Die Sachen kommen bald ...‹
    Ich wurde Nachrichtensoldat in einer Flak-Einheit. Ich machte Dienst auf dem Gefechtsstand, und vielleicht wäre ich bis Kriegsende Nachrichtensoldat geblieben, wenn ich nicht die Nachricht bekommen hätte, dass mein Vater gefallen war. Mein geliebter Papa lebte nicht mehr. Mein Papotschka ... Mein Einziger ... Ich bettelte: ›Ich will ihn rächen. Ich will Rache für den Tod meines Vaters.‹ Ich wollte töten ... Schießen ... Obwohl man auf mich einredete, das Telefon sei bei der Artillerie sehr wichtig. Aber ein Telefonhörer kann nicht schießen ... Ich schrieb ein Gesuch an den Regimentskommandeur. Er lehnte ab. Da wandte ich mich, ohne lange nachzudenken, an den Divisionskommandeur. Oberst Krassnych kam zu uns, ließ uns alle antreten und fragte: ›Wo ist hier diejenige, die Geschützführer werden will?‹ Ich stand da: Dünner Hals, spindeldürr, und an diesem Hals hing die MP , eine schwere MP , einundsiebzig Patronen ... Ich muss zum Erbarmen ausgesehen haben. Er sah mich an: ›Was willst du?‹ Ich zu ihm: ›Ich will schießen.‹ Ich weiß nicht, was er gedacht hat. Er sah mich lange an, dann drehte er sich abrupt um und ging weg. Na, dachte ich, er lehnt bestimmt ab. Dann kam der Kommandeur angelaufen: ›Der Oberst hat’s genehmigt ...‹
    Ich absolvierte einen Kurzlehrgang, sehr kurz, nur drei Monate. Dann war ich Geschützführerin. Ich kam ins eintausenddreihundertsiebenundfünfzigste Flak-Regiment. In der ersten Zeit schoss mir das Blut aus Nase und Ohren, und mein Magen streikte total ... Nachts war die Angst nicht ganz so schlimm, aber am Tag war es sehr schlimm. Es war, als käme jedes Flugzeug direkt auf mich zu, genau auf mein Geschütz. Direkt auf mich zu! Gleich würde es mich ganz und gar zerschmettern. Das ist alles nichts für ein junges Mädchen ... Nichts für Mädchenohren und -augen. Anfangs hatten wir ›Fünfundachtziger‹, die hatten sich vor Moskau bewährt, später wurden sie gegen Panzer eingesetzt, und wir bekamen ›Siebenunddreißiger‹. Das war bei Rshewsk. Da gab es solche Gefechte ... Im Frühjahr begann der Eisgang auf der Wolga ... Und was sahen wir da? Wir sahen eine Eisscholle schwimmen, darauf zwei, drei Deutsche und ein russischer Soldat ... So, wie sie gestorben waren, ineinander verkrallt. Sie waren in der Eisscholle festgefroren, und die ganze Eisscholle war voller Blut. Die ganze Mutter

Weitere Kostenlose Bücher