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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Valentina Pawlowna Tschudajewa habe ich mich lange am Telefon unterhalten, ja, unterhalten, denn sie spricht langsam und nachdenklich. Sie überlegt sich jeden Satz. Unversehens konzentrierte sich unser Gespräch auf ein Thema: Hass. »Das ist eine schwierige Sache«, bekannte Valentina. »Aber ohne Hass schießt man nicht. Das ist ja keine Jagd, sondern Krieg. Mit Hass fängt der Krieg an ... Ich erinnere mich, beim Politunterricht las der Politchef uns Ehrenburgs Artikel ›Töte ihn!‹ vor. Sooft du ihn triffst – töte ihn. Ein berühmter Artikel, den hat damals jeder gelesen. Auswendig gelernt. Er hat mich sehr beeindruckt. Uns alle.«
    Wir beschlossen, uns zu treffen. Und nun bin ich da.
    »Es gibt Piroggen. Ich stehe seit heute Morgen in der Küche«, begrüßt mich Valentina fröhlich und umarmt mich. »Zum Reden ist immer noch Zeit. Ich werde noch genug weinen ... Aber erst mal die Piroggen. Mit Traubenkirschen. Wie bei uns in Sibirien. Na, komm rein. Komm rein.
    Es macht dir doch nichts aus, dass ich einfach ›du‹ sage? Das kommt noch von der Front: ›He, Mädels! Na los, Mädels!‹ So sind wir alle. Das weißt du ja. Kristall haben wir, wie du siehst, nicht angehäuft ... Alles, was mein Mann und ich gespart haben, passt in eine Blechschachtel: ein paar Orden und Medaillen. Liegen in der Anrichte, zeig ich dir nachher.« Sie führt mich ins Zimmer. »Die Möbel sind auch alt, wie du siehst. Wir sind dran gewöhnt. Täte uns leid, sie zu ersetzen.«
    Sie macht mich mit ihrer Freundin Alexandra Sentschenko bekannt, Komsomolfunktionärin im belagerten Leningrad.
    Ich setze mich an den gedeckten Tisch: Na ja, essen wir eben Piroggen, zumal ich sibirische mit Traubenkirschen noch nie probiert habe.
    Drei Frauen. Heiße Piroggen. Doch das Gespräch dreht sich sofort um den Krieg.
    »Sie dürfen sie bloß nicht unterbrechen«, warnt mich Alexandra. »Wenn sie unterbrochen wird, fängt sie an zu weinen. Ich kenne sie schon ...«
    Valentina Pawlowna Tschudajewa , Flak-Geschützführerin:
    »Ich stamme aus Sibirien. Wieso ging ich, ein Mädchen aus dem fernen Sibirien, an die Front? Vom Ende der Welt sozusagen. Das mit dem Ende der Welt, danach hat mich ein westlicher Journalist bei einem Treffen mal gefragt. Er hat mich im Museum die ganze Zeit eindringlich angesehen, ich wurde schon ganz verlegen. Hinterher kam er zu mir und fragte über einen Dolmetscher, ob Frau Tschudajewa ihm ein Interview geben würde. Ich war natürlich sehr aufgeregt. Ich dachte: Was will er? Er hat mich doch im Museum gehört. Aber offenbar interessierte ihn etwas anderes. Erst einmal machte er mir ein Kompliment: ›Sie sehen so jung aus ... Wie können Sie den Krieg mitgemacht haben?‹ Darauf ich: ›Sehen Sie, das zeigt nur, dass wir sehr jung an die Front gegangen sind.‹ Aber ihn beschäftigte etwas anderes. Er stellte eine Frage, von wegen, Sibirien sei für seine Begriffe doch am Ende der Welt. ›Nein‹, erriet ich, ›Sie beschäftigt doch etwas ganz anderes: Ob es bei uns eine Generalmobilmachung gab, oder warum ich, noch eine Schülerin, an die Front gegangen bin.‹ Er nickte. ›Gut‹, sagte ich, ›ich werde Ihnen diese Frage beantworten.‹ Und ich habe ihm mein ganzes Leben erzählt, so wie dir jetzt. Er hat geweint. Am Ende bekannte er: ›Seien Sie mir nicht böse, Frau Tschudajewa. Im Westen war der Erste Weltkrieg eine viel heftigere Erschütterung als der Zweite. Bei uns gibt es überall Gräber und Denkmäler, die daran erinnern. An den Ersten Weltkrieg. Von ihm wissen wir, an ihn erinnern wir uns. Doch über Sie wissen wir nichts. Viele glauben ernsthaft, Amerika allein hätte Hitler besiegt. Über den Preis, den die sowjetischen Menschen für den Sieg gezahlt haben – zwanzig Millionen Menschenleben –, ist wenig bekannt. Auch von Ihrem Leid. Unmenschlichem Leid. Ich danke Ihnen – Sie haben mein Herz erschüttert.‹
    An meine Mutter kann ich mich nicht erinnern. Sie ist sehr früh gestorben. Mein Vater war Bevollmächtigter des Kreiskomitees, neunzehnhundertfünfundzwanzig wurde er in sein Heimatdorf geschickt, Getreide eintreiben. Das Land litt Not, und die Kulaken versteckten Getreide, ließen es verfaulen. Ich war damals neun Monate alt. Meine Mutter wollte Vater in die Heimat begleiten, und er nahm sie mit. Sie nahm auch mich mit und meine Schwester, sie wusste nicht, wohin mit uns. Mein Vater war früher Tagelöhner gewesen bei dem Kulaken, dem er am Abend auf der Versammlung drohte: ›Wir

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