Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)
Wolga war voller Blut ...«
Plötzlich hält sie mitten im Seufzer inne und bittet: »Ich kann nicht mehr ... Gönnt mir eine Pause ...«
»Ich musste an das belagerte Leningrad denken, als ich Valja zugehört habe«, meldet sich die bis dahin schweigsame Alexandra Sentschenko. »Besonders an eine Sache, die uns alle erschüttert hat. Jemand erzählte uns von einer alten Frau, die jeden Tag das Fenster öffnete und einen Krug Wasser auf die Straße schüttete, von Mal zu Mal immer weiter. Erst dachten wir: Na ja, wahrscheinlich eine Verrückte, während der Blockade haben wir so manches erlebt. Wir gingen zu ihr, um herauszufinden, was mit ihr los war. Und nun hören Sie, was sie sagte: ›Wenn die Faschisten nach Leningrad kommen, in meine Straße, dann verbrühe ich sie mit heißem Wasser.‹ Sie hat trainiert ... Das war ganz am Anfang der Blockade, da gab es noch heißes Wasser. Es war eine sehr kultivierte Frau. Ich erinnere mich sogar noch an ihr Gesicht.
Sie wählte die Art von Kampf, für die ihre Kraft reichte. Man muss sich diese Situation mal vorstellen ... Der Feind war dicht vor der Stadt, vor dem Narwa-Tor wurde bereits gekämpft, die Hallen des Kirowwerks wurden beschossen ... Jeder überlegte, was er für die Verteidigung der Stadt tun konnte. Sterben war zu einfach, man musste etwas tun. Irgendetwas. So dachten Tausende. Das habe ich selbst gesehen ...«
»Aus dem Krieg kam ich als Krüppel zurück«, erzählt Valentina weiter. »Eine Splitterverletzung im Rücken. Die Wunde war nicht groß, aber ich wurde weit weggeschleudert in eine Schneewehe. Und ich hatte meine Filzstiefel irgendwie ein paar Tage lang nicht getrocknet, entweder war kein Brennholz da oder ich war noch nicht dran, unser Ofen war klein, und wir waren viele. Jedenfalls, als sie mich dann endlich fanden, hatte ich starke Erfrierungen an den Füßen. Ich war im Schnee verschüttet, aber durch meinen Atem war ein Loch entstanden. Eine Art Röhre ... Die Hunde fanden mich. Sie wühlten den Schnee auf und brachten meine Mütze zu den Sanitätern. Darin lag mein Totenpass, jeder besaß so etwas: Name und Adresse von Angehörigen, wer im Todesfall zu benachrichtigen war. Ich wurde ausgebuddelt und auf eine Zeltbahn gelegt, mein ganzer Mantel war voller Blut ... Da achtete niemand auf die Füße ...
Sechs Monate lag ich im Lazarett. Sie wollten ein Bein amputieren, oberhalb des Knies, weil ich Wundbrand bekommen hatte. Da wurde ich kleinmütig, als Krüppel wollte ich nicht weiterleben. Wozu? Wer brauchte mich denn? Weder Vater noch Mutter. Ich war nur eine Last. Wer konnte mich so schon gebrauchen, als Stumpf! Ich wollte mich umbringen ... Ich bat die Pflegerin, mir statt des kleinen Handtuchs ein großes zu bringen. Im Lazarett wurde ich von allen gehänselt: ›Hier liegt eine Oma ... Eine alte Oma.‹ Weil, als der Leiter des Lazaretts mich zum ersten Mal sah und fragte: ›Na, wie alt bist du denn?‹, da sagte ich schnell: ›Neunzehn. Bald neunzehn.‹ Er lachte: ›Oho! Ist das alt! Ein enormes Alter.‹ Auch die Pflegerin Tante Mascha hänselte mich deswegen. Nun sagte sie zu mir: ›Ich geb dir ein Handtuch, weil du ja operiert wirst. Aber ich werde auf dich aufpassen. Irgendwie gefallen mir deine Augen nicht, Mädchen. Du hast doch wohl nichts Schlimmes vor?‹ Ich schwieg ... Aber ich sah, dass ich wirklich für die Operation vorbereitet wurde. Ich wusste zwar nicht, was das war, ich war ja zuvor noch nie operiert worden – inzwischen sieht mein Körper aus wie eine Landkarte –, aber ich ahnte es. Ich versteckte das große Handtuch unterm Kopfkissen und wartete, dass es still wurde. Dass alle einschliefen. Wir hatten Eisenbetten, und ich dachte mir: Ich binde das Handtuch am Bett fest und hänge mich auf. Aber Tante Mascha wich die ganze Nacht nicht von meiner Seite. Sie hat mich junges Ding behütet. Ist nicht eingeschlafen.
Mein behandelnder Arzt, ein junger Leutnant, der lief hinter dem Leiter des Lazaretts her und bat: ›Lassen Sie es mich doch versuchen. Lassen Sie es mich versuchen ...‹ Der widersprach: ›Was willst du denn versuchen? Ein Zeh ist schon schwarz. Das Mädchen ist neunzehn. Wegen uns beiden wird sie sterben.‹ Wie sich herausstellte, war mein Arzt gegen die Operation, er schlug eine andere Methode vor, die damals noch neu war. Mit einer Spezialnadel wird Sauerstoff unter die Haut gespritzt. Sauerstoff nährt ... Nun, so genau kenne ich mich damit nicht aus, ich bin ja kein Mediziner. Jedenfalls,
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