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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merciel Liane
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Missgestalteten ließ man draußen für die Gassenhunde liegen; diese Kinder nahm niemand. Die anderen legte man, wenn man sie nicht bei Verwandten unterbringen konnte, auf die Türschwelle von Gilden oder Handwerkern. An manchem Ort fand ein Kind vielleicht Barmherzigkeit und ein Dach über dem Kopf und erhielt möglicherweise die Chance, ein Gewerbe zu erlernen.
    Hin und wieder wurde ein Baby auf die Stufen des honiggoldenen Marmors gelegt, der zur Sonnenkuppel führte. Das kam jedoch selten vor. Beim gemeinen Volk hieß es, dass derjenige, der so etwas tat, der Strahlenden für alle Zeit die gesamte Gunst opferte, die ihm und seiner Familie vielleicht noch erwiesen worden wäre, um dem Säugling die Gnade der Göttin zu erkaufen. Celestia sah allen Kummer und alle Sünde unter der Sonne; täglich wurde sie bestürmt von den Gebeten der Bedürftigen, die sie von Calantyr bis zu den Sonnengefallenen Königreichen anriefen. Aber nicht einmal eine Göttin konnte alle Übel der Welt heilen. Es gab Grenzen. Wenn also die Eltern sie baten, ihrem Kind zu helfen, gaben sie jeden weiteren Anspruch auf eine Gunst für sich selbst auf. Einzig die verzweifeltsten Mütter oder die frömmsten legten ihre Babys vor Celestias Tür ab.
    Bitharns Mutter hatte diese Entscheidung getroffen. Ebenso Kellands Mutter. Und so hatten sie sich in ihrer Kindheit nähergestanden als Geschwister, hatten ihre Geheimnisse und Wünsche und Träume miteinander geteilt, denn sie hatten beide sonst niemanden auf der Welt.
    Dann hatte Kelland zu Beginn des Frühlings ihres zwölften Jahres den Ruf vernommen und Bitharn nicht, und so hatten sich die Wege ihres Lebens sauber getrennt.
    Die Gesegneten wurden berufen. Die Gewöhnlichen wurden es nicht. So tat die Göttin ihren Willen in der Welt kund. Jene, die sie auserwählte, gingen zur Ausbildung in die Säulenhallen der Kuppel. Dort wurden sie gelbgewandete Erleuchtete, die damit betraut waren, das Licht der Wahrheit über das Land zu werfen; oder sie wurden zu Sonnenrittern, die die Schwachen beschützten und Gesetzlose ihrer Strafe zuführten. Jene, die sie unbeachtet ließ, gingen … woandershin. Meistens hinaus in die Welt. Viele entschieden sich dafür, die priesterlichen Gelübde abzulegen und auf diese Weise Celestias Wort zu den Menschen zu bringen, mit der Autorität eines Solaros’, wenn auch nicht mit der Macht eines Gesegneten.
    Bitharn verspürte keinerlei Wunsch, eine Solaras zu werden. Stattdessen blieb sie in der Kuppel der Sonne, nahm an allen Lektionen teil, zu denen die Ritter ihr Zugang gewährten, und verbrachte die übrigen langen Stunden im Hof der Bogenschützen. Sie wurde zu einer Kuriosität: ein Mädchen, das besser schießen konnte als sämtliche Jungen, und mit der Zeit auch besser als die meisten der Ritter. Aber das war gut, das war mehr als gut; das machte sie zu einer Exzentrikerin, auf ihre Art genauso seltsam wie Kelland auf die seine.
    Schon damals, kaum der Kindheit entwachsen, hatte Bitharn erkannt, wie einsam Kellands Weg werden und wie dringend er eine Freundin brauchen würde. Die Ritter der Sonne wurden respektiert, verehrt, ein wenig gefürchtet – aber niemand freundete sich mit ihnen an. Sie nahmen die Sorgen und Nöte anderer in sich auf, konnten sich jedoch ihre eigenen Sorgen und Nöte nicht eingestehen. Sie blieben neutral in den Konflikten der weltlichen Sphäre, und Neutralität bedeutete Distanz. Sie hatten keine Geliebte, keinen Vertrauten, keine Schulter, an der sie sich ausweinen konnten; sie waren immer, immer allein.
    Es war eine schwere Last. Vielleicht war das der Grund, warum so wenige berufen waren.
    Also blieb sie bei ihm. Weil er sie brauchte und weil sich ihre Liebe irgendwann unterwegs, während sie mit ihren Pfeilen gespielt und er sich die Ernsthaftigkeit eines dreimal so alten Graubarts angeeignet hatte, von der Liebe eines Kindes zu einem Freund in die Liebe einer Frau zu einem Mann verwandelt hatte.
    Sie liebte ihn. Und das war etwas Unmögliches. Eher hätte sich Bitharn die Zunge abgebissen, als es ihm einzugestehen, und sie bezweifelte, dass er es wusste; die Wahrheit lautete jedoch, dass sie ihn niemals verlassen würde. Nicht daheim in Calantyr, nicht in den Sonnengefallenen Königreichen, niemals.
    Ein Flattern in der Luft erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein Vogel, der auf die ferne Burg zuflog.
    »Eine Taube«, sagte Bitharn und beschattete die Augen gegen das grelle Licht. Am Bein der Taube blinkte etwas, als sie über der

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