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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merciel Liane
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Burg tiefer flog: ein Markierband oder eine Nachrichtentrommel, die kurz in der Sonne glitzerte. Der Vogel war zu weit entfernt, als dass sie es genau hätte erkennen können. Einen Moment später verschwand die dicke, graue Taube in einem der kleinen, runden Löcher im östlichen Turm, wo Lord Eduin Inguilar vermutlich einen Taubenschlag unterhielt.
    »Ich habe sie nicht gesehen«, gab Kelland zu.
    Natürlich hatte er sie nicht gesehen. Bitharn verbarg ihr Lächeln. Trotz all seiner Fähigkeiten mit Schwert und Gebet hatte der Ritter nicht ihre Augen. »Sie ist in einen Turm geflogen«, erklärte sie. »Höchstwahrscheinlich trug sie eine Botschaft. Es sah aus, als hätte sie etwas am Bein gehabt.«
    »Konntest du erkennen, woher sie gekommen ist?«
    Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, von Osten, aber wegen der Bäume ist das schwer zu beurteilen.«
    »Im Osten gibt es nicht viel.«
    Er hatte recht. Zumindest gab es im Osten nichts, was eine Taube hätte erreichen können. Tauben waren Vögel für kurze Strecken und wurden selten benutzt, um Nachrichten weiter als dreihundert Meilen zu tragen. Nachrichten, die in weiter entfernte Gebiete gebracht werden mussten, vertraute man Weißmauks an, größeren und wilderen Vögeln, deren Vorfahren Jahrhunderte vor dem Krieg des Gottestöters vom Meer mitgebracht worden waren.
    Eine von einem Weißmauk überbrachte Nachricht wäre nicht weiter seltsam gewesen. Aber eine Taube?
    Östlich von Distelstein lag das feindliche Königreich Eichenharn. Im Nordosten lagen das stolze Mirhain und die wegelosen Schatten des Tiefenwaldes; im Süden befand sich das belagerte und bankrotte Thyeland, weiter dahinter wohnten die grausamen Eisenlords von Ang’arta und die Bluthexen, die sie Dornen nannten. Keines dieser Reiche kam als Herkunftsort für eine Taube in Frage. Einzig Eichenharn lag nahe genug. Höchstwahrscheinlich war der Vogel aus Lord Inguilars eigener Feste gekommen.
    »Warum sollten sie nicht einfach einen Reiter schicken?«, überlegte Bitharn laut. Distelstein war wie die meisten anderen Grenzfesten ein kleines Lehen. Ein Reiter konnte Lord Inguilars Burg von jedem Punkt der Grenze binnen eines oder zweier Tage erreichen.
    Kelland zuckte die Achseln. »Vielleicht konnten sie keinen erübrigen. Vielleicht war die Nachricht so dringend, dass sie keine Zeit hatten, sie von einem Reiter überbringen zu lassen.«
    »Oder vielleicht habe ich mich in der Richtung geirrt.«
    Der Ritter tat so, als denke er darüber nach. »Nein«, befand er. »Du irrst dich niemals. Zweifellos werden wir mit der Zeit den wahren Grund erfahren.«
    »Zweifellos«, pflichtete Bitharn ihm bei, und sie ritten weiter.
    Die Burgstadt vor ihnen begrüßte sie mit einem Schwall von Lärm und Farben. Mietreiter und -soldaten waren zu den bevorstehenden Feiern des Schwerttages auf Distelstein herbeigekommen, ebenso wie Bauern von ihren Feldern und Hirten von ihren Weiden. Knaben mit Träumen von Ruhm standen Seite an Seite mit abgebrühten Veteranen, die ihre Träume schon vor langer Zeit verloren hatten. Mädchen mit Blumen im Haar und bestickten Schärpen um die Taille beobachteten sie, kicherten und erröteten, wenn jene ihren Blick erwiderten, die ihnen besonders gefielen.
    Gemessen an den Maßstäben von Calantyr oder Mirhain waren die Festlichkeiten in Distelstein klein und glanzlos. Das östliche Langmyr war keine wohlhabende Region, und der immerzu schwelende Krieg mit Eichenharn stellte eine weitere Belastung für die Schatzkammern der Grenzfesten dar. Hier erwarteten die Sieger keine goldenen Börsen oder Lieder, die sie unsterblich machten. Die Söldner, die nach Distelstein kamen, waren der Kehricht der Sonnengefallenen Königreiche: Männer, die zu arm waren, um bei den großen Turnieren in Mirhain mitzureiten, oder zu jung und unfähig für einen Platz bei einer der Söldnertruppen, die ihre Dienste für jeweils ein Jahr an die Könige verkauften. Es waren Männer, für die ein Sieg ein besseres Pferd oder ein gutes, stählernes Schwert bedeutete, nicht tausend Silbersolis.
    Trotzdem waren viel zu viele Menschen versammelt, so viele, dass die Burgstadt einfach zu klein für alle war. Das Meer ihrer Zelte reichte mit seinem Durcheinander über die Tore hinaus ins Freie. Aus den Feuergruben zwischen den Zelten stieg der Duft von gebratenem Fleisch empor, und das Getöse von Hunderten Gesprächen in der rhaellanischen Handelssprache erfüllte die Luft.

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