Der Krieger und der Prinz
anders. Die Gebete zum Sonnenaufgang, zur Hochsonne und zur Abenddämmerung hatten jeweils ihre eigenen uralten, ritualisierten Abfolgen von Bewegungen und Posen, die dazu gedacht waren, den Körper zu kräftigen, während sie die Seele zentrierten. Alle Gebete wurden mit ernster Anmut vollzogen, beinahe wie Tänze, die dazu gedacht waren, die Göttin zu ehren. Die Erleuchteten hatten ähnliche Riten, die jedoch nicht so anspruchsvoll waren wie die der Sonnenritter. Die Krieger der Strahlenden mussten stark sein, körperlich ebenso wie geistig, und ihre Gebete waren so angelegt, dass sie ihnen dabei halfen.
Bitharn war kein Ritter der Sonne, aber sie hatte während ihrer Zeit in der Kuppel ihre Praktiken erlernt und freute sich immer, wenn sie mit Kelland beten konnte. Die Positionen und die anspruchsvollen Übergänge verlangten ihre volle Konzentration und befreiten ihre Gedanken von den Sorgen des Tages. Danach war sie stets von einem Gefühl des Friedens erfüllt, ruhte heiter in ihrer Göttin und in sich selbst.
Sie bückte sich, streifte mit den Fingerspitzen das Gras und richtete sich in der Taille auf, bevor sie mit den Händen einen weiten Bogen über ihrem Kopf beschrieb. Langsam ließ sie die Hände auf die Brust sinken und faltete sie für einen Moment des meditativen Gebets über dem Herzen. Neben ihr vollführte Kelland die gleichen Bewegungen mit der gleichen, von langer Übung gezeichneten Behändigkeit. Sie standen eine Weile lang da, und keiner wollte die Ruhe durchbrechen, bis Bitharn sich endlich dazu überwand zu sprechen.
»Die Lady von Distelstein hat um eine private Audienz ersucht«, sagte sie. »Heute Abend.«
»Warum?«
»Das wollte sie mir nicht erzählen. Nur dass sie unsere Hilfe benötige, um einen Krieg abzuwenden.«
Er dachte darüber nach. »Es kann nicht schaden zuzuhören. Lass uns herausfinden, was Lady Inguilar zu sagen hat.«
Die Burgwachen mussten sie erwartet haben, denn bei ihrer Ankunft stand das Seitentor von Distelstein offen. Eine Dienstmagd in einem grünen Wollkleid wartete zwischen den beiden Wachen an der Tür. Als Kelland und Bitharn näher traten, begrüßte sie die beiden mit einem Knicks.
»Ihr ehrt dieses Haus mit Eurer Anwesenheit«, sagte das Mädchen. »Folgt mir bitte.«
Sie führte sie eine enge Wendeltreppe hinauf, einen schmalen Flur entlang und durch eine zerkratzte Eichentür, die dicker war als Bitharns Hand lang. Breite Eisennägel glänzten, wo frühere Angreifer die Tür mit Schwertern und Äxten bearbeitet und die hölzerne Fassade nur durchdrungen hatten, damit ihre Waffen an den darunter kreuz und quer verteilten Beschlagnägeln stumpf wurden. Es sah nicht so aus, als hätte ein Angreifer jemals die Tür durchbrochen.
Ihre Führerin hatte nichts Bedrohliches an sich, doch Bitharn war sich mit allen Sinnen der Mörderlöcher bewusst, die die Wände durchzogen, der unregelmäßigen Stolperstufen auf den Treppen und der scharfen Spitzen der Eisentore in den Nischen. Sie hingen bei jeder Biegung des Weges über ihnen und warteten bloß darauf herunterzukrachen. Distelstein war eine massige, hässliche, praktische Festung, so erbaut, dass man jeden Fuß ihrer Flure den Verteidigern würde abringen müssen.
Im Gegensatz zu den Burgen von Calantyr oder Mirhain, die ihre Tore manchmal verrosten ließen, war Distelstein tadellos gepflegt. Kein Fleckchen Rostfraß machte die Dornen ihrer mörderischen Tore weich. Bitharn schauderte, als sie unter ihnen hindurchging, und anschließend hielt sie den Blick starr geradeaus gerichtet.
Hinter einer zweiten mit Nägeln beschlagenen Tür wurden die Flure breiter und glatter. Eiserne Fackelhalter säumten die Wände; darüber zierten Rußstreifen die Mauern. Winzige Fenster boten einen Blick auf blaues Zwielicht zwischen den qualmenden Fackeln.
Das Mädchen bog in einen letzten Gang ein, klopfte an eine Tür und verkündete: »Sir Kelland und Bitharn von Cailan, Mylord.«
»Wunderbar. Bitte, kommt herein«, erklang eine Stimme von innen.
Das Mädchen öffnete die Tür, knickste abermals und schloss sie hinter ihnen, nachdem die beiden Celestianer eingetreten waren.
Sie fanden sich in einem Turmzimmer wieder. Bildteppiche hingen an den Wänden und zeigten Schlachtenszenen aus einem Krieg, von dem Bitharn nichts wusste. Die blutigen Bilder stellten einen scharfen Kontrast zu dem Rest des Raums dar, der sanfter und kultivierter wirkte. Verglaste Fenster boten einen Blick auf den Innenhof der Burg.
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