Der Krieger und der Prinz
ausmachte wie Morgennebel. Eine Seele konnte in diese Pupillen hineinfallen und nie wieder herauskommen: Sie waren ebenso unendlich und so fremdartig wie die Leere zwischen den Sternen.
So gewaltig war die Macht seines Blickes, dass Odosse einen Moment brauchte, bis sie begriffen hatte, dass der Zauber darum herum brüchig geworden war. Sein goldenes Haar war nicht so leuchtend, wie sie es sich zu Anfang eingebildet hatte: Es war spröde und strohähnlich, überhaupt nicht glänzend, und auf einer Seite hatten sich Ascheflöckchen zwischen den Strähnen verfangen. Seine Wangen waren bleich und eingefallen, seine Lippen trocken und leicht bläulich wie die eines Toten. Wenn er lächelte, sah sie, dass seine Wangen fast bis auf die Knochen eingefallen waren, sodass es aussah, als blecke ein Totenschädel die Zähne. Die Zunge dahinter war dick und purpurn. Sein Parfüm, das noch einen Moment zuvor so süß gewesen war, stank jetzt nach Verderbtheit.
Er ist ein Ungeheuer, begriff sie. Aber sonst erkannte das anscheinend niemand.
Ein Schankmädchen war hereingekommen, um die Gaststube auszukehren, während sie miteinander sprachen, und ging nun mit einem scheuen Lächeln an ihm vorbei. Er war in ihren Augen vermutlich so schön, wie er es einst für Odosse gewesen war. Und der Fremde lächelte weiter, als begreife er nicht, dass Odosse jetzt spürte, wie leichenkalt seine Berührung war, während sie in seinem Atem den Gestank von Verwesung roch. Er ist ein Ungeheuer, und er weiß nicht, dass ich es weiß.
»Bist du allein hier?« Sein Nagel bohrte sich in das Fleisch unter ihrem Kinn. Nur ein kleines Stück, nur ein winziger Hinweis, aber der Nagel war tödlich wie eine Messerklinge.
Odosse kämpfte ihre Panik nieder. Sie fühlte sich wie eine in die Enge getriebene Maus, die versuchte, den Klauen der Katze zu entkommen. Fieberhaft fragte sie sich, wie die richtige Antwort lauten mochte. Sie konnte nur daran denken, dass sie unter allen Umständen ihren Sohn beschützen musste. »Ich … j-ja, Mylord. Ich bin allein.«
»Ich glaubte, dich gestern mit einem Baby in einer Basttrage auf dem Markt gesehen zu haben. Vielleicht habe ich mich geirrt … aber es ist schwer vorstellbar, dass es in dieser Stadt zwei so entzückende Mädchen gibt. War das Kind deins?«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Mylord.« Die Lüge kam ihr diesmal leichter über die Lippen. Die Verzweiflung schenkte ihr eine Zungenfertigkeit, die sie sich bisher nicht zugetraut hätte. »Ich war an diesem Tag überhaupt nicht auf dem Markt, und ich habe keine Kinder. Das Einzige, was ich auf dem Rücken trage, sind meine Brotkörbe.«
»Ah, dann tut es mir leid, dass ich mich geirrt habe.« Der Fremde zog die Hand zurück und vollführte eine kleine Geste, als ob er eine flüchtige Fantasie verscheuchen wolle. Er stand nicht auf, als Odosse ihren leeren Korb hob, einen weiteren unbeholfenen Knicks vollführte und sich davonmachte. Aber sein Blick folgte ihr zum Gebrochenen Horn hinaus, und seine Augen waren kalt unter dem Zauber.
Sobald sie alle Körbe abgeliefert hatte, ging Odosse wieder ins Gasthaus und suchte nach Brys. Sie wäre früher gekommen, aber sie wollte sicher sein, dass der Fremde fort war, und wenn sie direkt hingegangen wäre, wäre er ihr vielleicht gefolgt.
Bei ihrer Rückkehr war der Fremde nicht mehr im Schankraum. Gewöhnliche Menschen saßen an den Tischen; ihre Gespräche schallten laut durch den Raum. Odosse fand ein wenig Trost in der Menge, fragte sich jedoch zugleich, ob sich ein weiteres Ungeheuer unter den Leuten verbarg, und daher eilte sie die Treppe hinauf.
Ihr Klopfen an Brys’ Tür blieb unbeantwortet. Er war nicht da. Odosse stand einen Moment davor, außerstande zu begreifen, dass er nicht da sein konnte, wo sie ihn doch so sehr brauchte. Als sie diese Tatsache dann endlich doch begriffen hatte, kehrte sie zur Treppe zurück und sah zu Boden.
Unzählige Stiefelschritte hatten die Stufen in der Mitte geglättet und sie an den Rändern rau gelassen. Odosse setzte sich auf die Stufen und weinte. Sie saß noch immer so da, als einige Zeit später Brys heraufkam.
»Was zum Teufel ist mit dir passiert?«
Odosse stand hastig auf, wischte sich über die geschwollenen Augen und wünschte, sie hätte ein Taschentuch gehabt. »Nichts. Ich meine …«
»Komm. Erzähl es mir drinnen.«
In seinem Zimmer berichtete sie ihm, was geschehen war, zuerst stockend und dann in einem solchen Wortschwall, dass sie sich
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