Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
13-14
D ie Köpfe der Zuschauer spiegelten sich im Kronleuchter über uns, auch meiner, ein himmlischer Anblick. Die Abbilder Tausender Menschen versammelt in einer Hundertschaft kristallener Tropfen; und wenn der Vorhang gefallen und das Licht erloschen sein würde, wenn ein Pförtner die großen Doppeltore für den letzten Kehraus öffnete, würden auch unsere Abbilder gegangen sein, hinaus, die Foyertreppe hinab in die Nacht.
Ich saß im Lyceum, dem königlichen Theater, in einer Loge, die nach der Übergabe einer nicht geringen Anzahl Banknoten für mich geräumt worden war. Man gab eine Farce, wie ich erfahren konnte, das Stück eines jungen Autors, der offenbar auch für einige Londoner Zeitungen schrieb, dabei allerdings den Anstand besaß, sich nicht selbst zu rezensieren, sondern die Besprechungen seiner Stücke anderen zu überlassen. Eine weise Entscheidung, denn die wehmütigen Worte in den Feuilletons, bald einen guten Kollegen an die glückliche Leiterin des Lyceums zu verlieren, hatten Sorge dafür getragen, dass der Saal gut gefüllt war. Es war die Premiere seines neuesten Stücks. Erlesene Gesellschaft hatte sich im Parkett versammelt, wohlgekleidete Herrschaften, distinguiert, aber schlicht, von der Art, die es nicht nötig hat, mit ihrer Art zu hausieren. Ganz hinten die im mittleren Alter, die wohl hier waren, um zu sehen, wer alles da war, die älteren weiter vorne, um gesehen zu werden, und ganz vorn die jungen Enthusiasten, Verehrer und Liebschaften der Schauspieler, die, gebannt nach vorne gerichtet, für nichts Augen hatten als das Spektakel.
Die Bühne selbst bot einen wunderbaren Anblick: groß, mit Seitenbauten links und rechts, die die Breite der Spielfläche nach vorn um beinahe die Hälfte verdoppelten und die den Charakteren vielerlei Gelegenheiten boten, beiseite zu sprechen, so dass die Zuschauer, nicht aber die anderen Charaktere auf der Bühne hören konnten, was die Akteure alles an stillen Plänen, Vermutungen oder Herzenswünschen äußerten. Weiterhin gab es ein prächtiges Podest auf der hinteren Bühne, das sich zu einer bestimmten Gelegenheit aufklappen ließ, um eine mittelgroße Schar schmuddeliger Gören zu entlassen, Bauern- oder Straßenkinder, es war durch mein Opernglas nicht gut zu erkennen, die in einem Reigen um das junge Pärchen der Hauptpersonen sprangen und ihnen durch Zurufe etwas vergegenwärtigten, was sich sogleich in einem Wutausbruch des Bräutigams auf die Handlung auswirkte. Was genau sich jedoch dort unten vor der formidabel mit Kalklicht erhellten Kulisse zutrug, entging mir, zumindest schien es etwas mit Gurken zu tun zu haben, wie dem Titel „Cool as a Cucumber“ zu entnehmen war. Natürlich sprachen die Schauspieler allesamt außerordentlich betont und nachdrücklich, so dass keiner ihrer Kollegen selbst unter einem Hörsturz auch nur die kleinste Äußerung überhören könnte.
Dennoch fiel es mir schwer, mich auf den eigentlichen Inhalt ihrer Reden einzulassen, was einerseits durch die Tatsache erschwert wurde, dass ich mit der englischen Sprache zwar vertraut, aber nicht mit Gedanken in ihr beheimatet war und somit alles, auch das halbbewusst Erfasste, für mich übersetzen musste; andererseits konnte ich mich aufgrund meiner gegenwärtigen Aufregung nur mühsam konzentrieren, denn es waren kaum dreißig Minuten vergangen, seit ich einen Menschen getötet hatte.
Nicht, dass mich diese Tat befriedigt hätte. Sie hatte mich auch nicht so enerviert, dass ich meinen Unmut mit diesem seltsamen britischen Stück Kultur auflösen musste; es gab schlichtweg keinen sichereren Ort, an dem man sich nach einem Verbrechen aufhalten konnte, als eine geschlossene Veranstaltung. Zugegebenermaßen hatte ich nicht reservieren lassen, doch dass ich erst während des vierten Aktes gekommen war und ein grenzdebiler alter Kerl im Rollstuhl aus der Loge und in die nächste Droschke genötigt werden musste, um mir Platz zu schaffen, waren Einzelheiten, die niemanden zu interessieren brauchten. Es stand das geschriebene Wort, die Einlasszeit auf dem Theaterprogramm, gegen das Pfundzeichen, das mir meinen Platz sicherte.
Mehr war auf die Schnelle nicht zu machen gewesen, denn schließlich hatte ich nicht geplant, den alten Freimaurer zu erschießen. Leider aber hatte Sedgwick einfach im falschen Augenblick aus dem Fenster geschaut – just in dem Moment, helaas, als meine Tarnung versagte. Wahrscheinlich würden die Polizei und wer weiß noch alles in diesem
Weitere Kostenlose Bücher