Der Kristallstern
rückte Jacen näher an den Zaun heran und überquerte dabei das verbotene Gelände, bis er unmittelbar vor dem dicken Maschendraht stand. Jaina folgte ihm. Die anderen Kinder blieben zurück, denn sie hatten noch immer Angst vor dem Drachen.
»He, Drache«, sagte Jacen leise. »He, Frau Drache.« Er ließ das Licht wieder von der Felswand heruntertanzen und in Richtung des Zauns kriechen. Der Drache folgte.
Jacen brachte den Funken Sonnenlicht ganz dicht an den Zaun heran. Jaina hielt den Atem an. Ihr Herz schlug ganz schnell.
Die Nase des Drachens preßte sich gegen den Zaun. Seine mächtigen Zähne ragten aus dem Rachen hervor, und er geiferte in den Sand. Die Zunge zuckte, zuckte, zuckte zwischen den Lippen hin und her. Die Augen, riesig und golden, waren so groß wie Jainas Fäuste. Der Drache blinzelte mit seinen schweren Augenlidern. Sein heißer Atem kräuselte den Sand an der Stelle mit dem Licht.
Jacen hatte Probleme, das Licht in der Nähe des Drachens zu halten, weil die Sonne am Himmel bereits sank.
Als der Lichtfleck verblaßte, steckte Jacen seine Hand durch den Zaun. Jaina ächzte. Jacen berührte die große Augenbraue des Drachens und streichelte die glatten Schuppen.
»Brav, Frau Drache«, sagte Jacen. Er streichelte kräftiger. Der Drache drückte sich gegen seine Hand und gab einen tiefen, rollenden, freundlichen Grunzton von sich.
»Sie mag dich«, wisperte Jaina.
»Sie ist ganz allein«, sagte Jacen. »Sie ist einsam. Sie ist ein kleiner Drache und wünscht sich jemanden zum Spielen.«
Es machte dem Drachen nichts aus, daß er sich nicht mehr mit dem Licht beschäftigen konnte.
»He! Ihr Kinder!«
Der Drache riß den Kopf hoch, aufgeschreckt durch das Geschrei. Jaina drehte sich um. Der Oberproktor stand am Kopfende der Treppe. Die anderen Kinder verstreuten sich im Dämmerlicht.
Der Drache brüllte. Der Zaun klirrte, als er aufstand und dagegenstieß. Jacen riß seine Hand vom Zaun zurück, und er und Jaina rannten zum Spielplatz zurück. Jacen drückte Jaina ihr Multiwerkzeug in die Hand, und sie versteckte es in ihrer Tasche.
Der Oberproktor lachte zu ihnen hinüber.
»Jetzt werdet ihr wohl an den Drachen glauben, denke ich«, sagte er. »Alle Kinder stellen sich in eine Reihe! Ihr seid sehr böse gewesen. Ich hatte euch gesagt, daß ihr zu euren Studien zurückkehren sollt.«
»Wir konnten Sie nicht verstehen, Sir«, sagte Jaina respektvoll. »Wir dachten, Sie hätten gesagt, wir sollen nach draußen gehen.«
Er funkelte sie an. Er sah aus, als ob er sich nicht wohl fühlte. An Handgelenken und Hals hatte er anschwellende rote Bißwunden. Nach wie vor bewegte er sich in seiner Uniform so, als ob er sich kratzen wollte. Jaina blickte ihm in die Augen, ohne zu lachen, obwohl sie gerne gelacht hätte.
»Das stimmt, Sir«, sagte Jacen. »Ich dachte, ich hätte Sie sagen gehört, daß wir nach draußen gehen sollen, und ich war Ihnen viel näher als meine Schwester!«
»Das stimmt, Sir«, sagte eins der anderen Kinder.
Der Oberproktor trug eine zerknitterte Uniform mit einem großen Schmutzfleck auf einem Ärmel, und alle seine Orden saßen schief.
Ich wette, er hat seine Wäsche nicht gewaschen, als er das hätte tun sollen! dachte Jaina. Ich wette, er läßt sie auf dem Fußboden seines Zimmers zu Bergen anwachsen, und er hatte nichts Sauberes mehr zum Anziehen, nachdem die Myrmins und der Sand in seine Kleider geraten waren.
Jaina war Winter dankbar dafür, daß sie sie immer dazu anhielt, ihre Sachen wegzuräumen. Sie hatte ihnen sogar gezeigt, wie sie ihre Wäsche pflegen mußten, falls dies erforderlich wurde – wenn der Waschdroide nicht funktionierte oder vergaß, wie man die Kleider gebügelt haben wollte.
»Stellt euch in die Reihe!« sagte der Oberproktor. Sämtliche Kinder reihten sich hinter Jaina und Jacen auf.
Die Proktoren führten die Kinder zurück ins Innere. Jaina seufzte. Sie waren nicht entflohen, und jetzt würden sie den ganzen Tag damit verbringen müssen, auf die fürchterlichen, langweiligen Displays zu starren, die ihnen erklärten, wie wundervoll alles sein würde, wenn sich Hethrir zum Imperator aufgeschwungen hatte.
Wahrscheinlich würde auch Lord Hethrir kommen und ihnen die Leviten lesen. Davor hatte sie Angst. Er würde vermutlich wissen, daß sie den ganzen Ärger verursacht hatte.
Jaina sehnte sich nach dem Unterricht zu Hause. Manchmal lasen sie und Jacen, Winter oder Papa und Mama Geschichten vor. Manchmal erfanden sie auch selbst
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