Der Kruzifix-Killer

blickte auf die Uhr: Es war zehn nach acht. Ihm blieb eine Stunde, bis sein Liebhaber eintreffen würde. Er trank sein Bier aus und beschloss zu duschen.
    Während das Wasser seinen müden Körper massierte, kämpfte George gegen aufkeimende Gewissensbisse an. Er liebte Catherine und genoss es, mit ihr zu schlafen – die wenigen Male, die sie ihn gewähren ließ. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie in Alabama geblieben wären, doch L.A. hatte ihm etwas Neues geboten. Bisexuell zu sein war heutzutage für viele Menschen nichts allzu Ungewöhnliches mehr – allerdings galt das nicht für Catherine.
     
    Catherine Slater war in Theodore, Alabama, als Catherine Harris zur Welt gekommen. Ihre Erziehung im Schoß einer extrem religiösen Familie war sehr streng gewesen. Sie war eine eifrige Kirchgängerin, die bis zu fünf-oder sechsmal die Woche zum Gottesdienst ging. Mit dogmatischem Hochmut beharrte sie darauf, dass Sex vor der Ehe verwerflich sei, und auch danach, fand sie, sollte es kein Instrument zur Befriedigung fleischlicher Gelüste sein.
    Catherine und George hatten sich während ihres ersten Jura-Semesters an der Alabama State University kennengelernt. Beide waren Einser-Studenten, und so dauerte es nicht lange, bis sich aus der Studenten-Freundschaft der unwahrscheinliche Fall einer Romanze ohne Sex entwickelte. Aus dem Bedürfnis heraus, ständig mit Catherine zusammen zu sein, machte George ihr, einen Monat nachdem sie beide ihr Abschlussexamen bestanden hatten, einen Heiratsantrag.
    Bald nach der Heirat erhielt George ein Stellenangebot von einer bekannten Kanzlei in Los Angeles, Tale & Josh. In Catherines Vorstellung war Los Angeles eine verderbte Stadt, in der Gewalt, Sex, Drogen und Gier regierten, doch nach zwei Monaten des Diskutierens und der Versprechungen seitens ihres Mannes sah sie widerwillig ein, dass dieses Jobangebot zu gut war, um es auszuschlagen.
    Dass ihre eigene berufliche Zukunft bei diesem Umzug nach Los Angeles nicht berücksichtigt wurde, störte Catherine nicht. Sie hatte sich selbst nie als Karrierefrau gesehen. Ihre Eltern hatten sie dazu erzogen, eine gute Ehefrau zu werden, sich um Heim, Kinder und Mann zu kümmern, und nichts anderes wollte sie. Außerdem nahm sie an, dass George an Los Angeles ohnehin keinen Gefallen finden würde und bestimmt nach einem Jahr oder so den grellen, mondänen Lebensstil dieser Stadt satthätte. Doch sie sollte sich täuschen.
    Als George den zweiten Fall für seine Kanzlei gewonnen hatte, lud ihn sein Mandant zur Feier des Sieges zu einer privaten Party ein. »Lassen Sie Ihre Frau lieber zu Hause. Ohne Ehefrau macht es mehr Spaß. Sie wissen schon …«
    George war fasziniert von dieser mysteriösen Einladung. Er entschuldigte sich bei Catherine mit dem üblichen »Es wird heute etwas später im Büro, Schatz« und erschien ohne Begleitung in dem luxuriösen Haus in Beverly Hills. Was er dort sah, veränderte sein Leben für immer.
    Ein einziges Mal in seinem Leben war George mit Pornos in Kontakt gekommen, und das war in seiner Highschool-Zeit gewesen. An einem Wochenende, als seine Eltern verreist waren, war einer seiner Schulfreunde irgendwie an ein altes Video und ein paar Sexhefte herangekommen. George hatte dieses Erlebnis nie vergessen, doch das hier war kein Film, keine Schauspielerei. An diesem einen Abend bekam George das ganze Programm live serviert: Sadomaso-Praktiken, Partnertausch, Fesselungen, Auspeitschungen, Wasserspiele, Sachen, auf die er nicht einmal im Traum gekommen wäre. Er entdeckte eine Welt, die er allerhöchstens in der Pornoliteratur und in schmierigen Filmen für möglich gehalten hätte, nicht aber in der Wirklichkeit. Freier Sex, freie Drogen – ein Ort, an dem seine geheimsten Phantasien wahr werden konnten, an dem seine dunkelsten sexuellen Triebe ohne Schuldgefühle ausgelebt werden durften. Dort, im Keller dieses luxuriösen Anwesens, hatte George zum ersten Mal Sex mit einem männlichen Partner, und er war hingerissen. Danach konnte er von seiner neuentdeckten dunklen Seite nicht mehr genug bekommen. Er liebte die Partys, die Leute und die Heimlichkeit.
     
    George trocknete sich langsam ab und wickelte sich das Handtuch um die Hüfte. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Rafael erregte ihn. Er holte sich noch ein Bier aus der Küche und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand: Viertel vor neun. Jetzt dauerte es nicht mehr lange. Er überlegte, ob er sich noch einmal anziehen sollte, doch