Der Kugelfaenger
Möchtegernexperte spricht im Zusammenhang mit Models darüber. Das werde ich nicht auch noch tun.“
„Verharmlosen Sie damit nicht die Macht, die Essstörungen in Ihrem Job haben, Evelyn?“
„Nein, das tue ich ganz bestimmt nicht. Es ist ein ernst zu nehmendes Problem, keine Frage.“ Sie lächelt kurz. „Aber meiner Meinung nach gibt es Themen, die mindestens genauso wichtig sind und über die viel zu wenig gesprochen wird.“
„Sie sagten vorhin, man hätte Sie häufig nicht so behandelt, wie es sich gehört“, sagt Rajesh jetzt und wirft einen Blick auf seinen Zettel. „Ist dies eins der Themen, die Ihrer Auffassung nach nur unzureichend Erwähnung finden?“
„Ja. Unter anderem.“
„Können Sie erklären, wie Sie das meinen?“
Evelyn räuspert sich. „Ich wurde oft belästigt.“
„Wir sprechen hier von sexueller Belästigung, nicht wahr?“
„Ja.“ Sie nickt. Ihre Stimme ist klar und deutlich.
Evelyn kann spüren, wie sich Tom neben ihr verkrampft.
„Okay. Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir ein wenig näher darauf eingehen?“
„Ja, das ist kein Problem.“ Sie lächelt schüchtern.
„Sie wurden also des Öfteren Opfer sexueller Übergriffe?“ Rajesh betont jedes einzelne Wort.
„Ja.“
Tom späht zu Evelyn hinüber. Sie hat sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Sie kennt das ganze Interview auswendig.
„Inwieweit?“ Rajesh nimmt einen Schluck Wasser.
„Manche Fotografen oder männliche Kollegen sind mir näher gekommen, als mir lieb war.“ Sie räuspert sich kurz. „Das war vor allem zu Beginn meiner Karriere, als ich noch unbekannt war, eine junge, im Modebusiness unerfahrene Frau. Und ich wollte unbedingt erfolgreich sein.“
„Können Sie das an einer konkreten Situation festmachen?“
An dieser Stelle wirkt Evelyn das erste Mal ein wenig unsicher, so, als würde sie das immer noch sehr mitnehmen. Tom merkt: Das ist gespielt. Aber ausgezeichnet gespielt.
„Man hat mir beispielsweise öfter mal an den Hintern gefasst, wenn ich das so sagen darf.“
Rajesh lächelt milde. „Aber das kann Ihnen doch überall passieren. In der U-Bahn, im Supermarkt. Dafür müssen Sie nicht auf dem Laufsteg stehen. Das ist heute doch, vorsichtig ausgedrückt, fast ‚normal’.“
„Würden Sie es auch als normal bezeichnen, wenn bei einem Shooting der Fotograf plötzlich in den Umkleideraum kommt, mich an die Wand drückt und küsst?“
Rajesh lässt ihre Worte ein wenig wirken. Dann meint er: „Aber Ihre Erlebnisse lassen sich doch nicht verallgemeinern.“
„Nein, selbstverständlich nicht. Das behaupte ich auch nicht. Aber ich bin mir sicher, dass ich kein Einzelfall bin. Wissen Sie, wir Models sind nur noch ein Objekt. Ein Sexobjekt. Wir hängen halb nackt an jeder zweiten Straßenecke. Nicht mehr und nicht weniger.“ Sie trinkt einen Schluck Mineralwasser. „Ich war damals Mitte zwanzig und konnte nichts dagegen tun. Und jetzt stellen Sie sich eines dieser Mädchen vor, die schon mit fünfzehn oder sechzehn vor der Kamera stehen. Das macht mir Sorgen.“
Evelyn hat die Augen wieder aufgemacht und spult das Interview bis zum Schluss vor.
Rajesh fragt: „Wollen Sie zum Ende unseres Gesprächs noch über Ihr Verhalten bei der Castingshow vor ein paar Wochen sprechen?“
„Nein“, sagt Evelyn.
„Wollen Sie sich bei jemandem entschuldigen?“
„Nein“, sagt sie. „Außer bei dem Mädchen. Leider habe ich ihren Namen vergessen. Aber es tut mir leid, dass ich ihr nicht helfen konnte und im Grunde der gleichen Meinung war, wie der Rest der Jury. Das tut mir leid.“
Rajesh: „Würden Sie sich heute noch einmal für den Job des Models entscheiden, Evelyn?“
Sie sieht ihn an und lächelt. „Nein. Das würde ich mit Sicherheit nicht. Auch wenn ich noch einmal nachdrücklich sagen muss, dass es auch gute, schöne Zeiten gegeben hat. Aber heute würde ich mich wohl eher für mein Medizinstudium entscheiden.“
„Wie wird Ihre Zukunft im Modebusiness aussehen?“
Evelyn legt den Kopf schief. „Für mich gibt es dort definitiv keine Zukunft.“
„Vielen Dank für diese offenen Worte, Evelyn“, sagt Rajesh.
„Bitte“, sagt Evelyn. Damit ist das Interview zu Ende.
Evelyn hält den Film an und nimmt die CD heraus.
Tom starrt auf den toten Bildschirm. „Ist das wahr?“, flüstert er ungläubig.
Sie nickt und steckt die CD wieder in ihre Tasche.
„Scheiße“, sagt Tom. „Du hättest schon viel früher damit aufhören sollen.“
Evelyn
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