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Der Kulturinfarkt

Der Kulturinfarkt

Titel: Der Kulturinfarkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Pius u Opitz Armin u Knuesel Dieter u Klein Haselbach
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kreativen Klasse (»creative class«) zu binden. Hinter Floridas Theorie steht die These, dass nicht Arbeitskräfte zu den Betrieben gehen, sondern vielmehr umgekehrt die Betriebe dorthin kommen, wo es ein interessantes Arbeitskräftepotenzial gibt. Florida nutzt unterschiedliche Indizes, mit denen er den Erfolg von Städten misst, Mitglieder der kreativen Klasse anzuziehen und am Ort zu halten. Er leitet daraus ab, wie eine städtische Politik aussehen müsste, um die kreative Klasse anzuziehen und zu binden. Er schlägt vor, Talente zu entwickeln, Toleranz zu fördern, moderne Technologien in den Städten bereitzustellen – sicherlich kein schlechtes Programm für kommunale Wirtschaftsförderung, unabhängig davon, ob Florida mit seinen Thesen recht hat.
    69 Florida, Richard: The Rise of the Creative Class, New York 2004.
    Dass Kreativität eine wichtige wirtschaftliche Ressource darstellt, ist ein alter Hut. Seit Schumpeter ist man sich in der Wirtschaftswissenschaft einig darüber, dass Wirtschaftssubjekte in allen Branchen, die durch offene Märkte geprägt sind, nur dann erfolgreich sein können, wenn sie als Wirtschaftssubjekte kreativ sind: Die Wirtschaft wird vorangetrieben durch »neue Kombinationen« in den Produktionsfaktoren, durch »schöpferische Zerstörung« der alten. 70 Nach Schumpeter muss jedes Wirtschaftssubjekt in einer Marktwirtschaft – bei Strafe des wirtschaftlichen Scheiterns – kreativ sein.
    70 Schumpeter, Joseph: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 5 1952 (1911), S. 88 ff.
    Floridas Botschaft ist: »Wo die Kreativen sind, wird die Wirtschaft wachsen.« Florida ist überzeugt, dass Städte, die ihre Politik an seinen Empfehlungen ausrichten und die kreative Klasse an sich binden, in der globalen Standortkonkurrenz besser als andere dastehen, die sich nicht um ihre Kreativen kümmern. Allein, schon einer ersten Plausibilitätsprüfung hält die These nicht stand, dass Betriebe vorzugsweise dorthin gehen, wo die kreative Klasse besonders zahlreich vertreten ist. Würden Floridas Thesen stimmen, müsste Berlin in Europa ein bedeutender und dynamischer Wirtschaftsstandort sein. Die Berliner Realität wird der sozialwissenschaftlichen Prognose aber bisher nicht gerecht. Es wimmelt zwar von Kreativen, aber nicht von Wirtschaft. Wahrscheinlich wird auch die Mobilität von »Kreativen« überschätzt, zumindest was Europa angeht. 71
    71 Vgl. Gritsai, Olga: »Comparing paths of creative knowledge regions«, http://www.nbu.bg/ PUBLIC / IMAGES /File/departamenti/centyr_soc_praktiki/ WP 3final.pdf (aufgerufen am 20. 12. 2011).
    Trotz aller skeptischen Stimmen, der euphorische Geist Floridas durchweht die nüchterne branchenpolitische Debatte zur Kulturwirtschaft. Zu schön der Gedanke, dass mit mehr Kunst und Kultur das wirtschaftliche Wachstumsproblem gelöst werden könnte, dass die Arbeitsplatzverluste in der produzierenden Wirtschaft durch Arbeitsplätze in der Kultur kompensiert werden könnten. Die Ernüchterung lauert gleich um die Ecke. Die hohe Aufmerksamkeit, welche die Kulturwirtschaft in Europa derzeit erfährt, geht auf einen einfachen Kategorienfehler zurück. Sind schon die Ideen Floridas angreifbar, so führt die Gleichsetzung von »creative class« mit Kulturwirtschaft in die Irre. Die kreative Klasse, das war bei Florida das Arbeitskräftepotenzial der über den Durchschnitt Gebildeten, der Akademiker vom Bachelor aufwärts. Das ist – vor allem in Nordamerika – eine sehr große Gruppe und sicherlich eine wichtige Ressource für wirtschaftliches Wachstum. Die künstlerische Boheme ist eine Teilmenge von Floridas »creative class«. Werden die kleinen Designbetriebe, die frei schaffenden Künstler, die freien Musiker oder die Journalisten aber zum Inbegriff dieser kreativen Klasse geadelt, dann erscheinen sie plötzlich als Treibsatz zur Entwicklung eines neuen urbanen Kapitalismus. Von ihnen wird erwartet, die Betriebe anzulocken, die nach Florida Appetit auf die knappe Arbeitskraft der kreativen Klasse haben. Der Kulturwirtschaft europäischen Typs wird eine gesamtwirtschaftliche Rolle zugerechnet, die sie nicht erfüllen kann. Gegen solche Interpretationen muss man selbst Florida in Schutz nehmen. Floridas »creative class« und die Kulturwirtschaft sind zwei Phänomene mit sehr geringen Überschneidungen. So, wie Florida den Begriff fasst, gehören zur kreativen Klasse viel mehr Menschen als nur die Künstler und »Kreativen« (etwa Rechtsanwälte, Lehrer und

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