Der kurze Sommer der Anarchie
Monaten verbüßen, zu der ein Pariser Gericht sie wegen unbefugten Waffenbesitzes verurteilt hatte. Sie waren in einem Auto verhaftet worden, wo sie, das Gewehr im Anschlag, auf die Ankunft des Königs von Spanien gewartet hatten.
Ich hatte es also gleichzeitig mit zwei verschiedenen Fällen und mit fünf Kämpfern auf einmal zu tun, die es zu verteidigen galt. Manchmal konnte es den Anschein haben, als vernachlässigte ich das Komitee für politisches Asylrecht, das zu Gunsten der spanischen Freunde arbeitete; dann bekam ich Vorwürfe von seiten der spanischen Emigranten zu hören. Setzte ich dagegen das Komitee Sacco-Vanzetti auf Sparflamme, so regten sich die Italiener auf. Schließlich hatte ich es auch noch mit den Vertretern der »reinen Linie« zu tun, denen es unzumutbar schien, daß ich meine Beziehungen spielen ließ, um die fünf Bedrohten zu retten. Einer von diesen »Reinen« schrieb sogar ein paar halb lachhafte, halb widerwärtige Verse, in denen er zu dem Schluß kam: »Was kümmert uns der Tod! Er lebe hoch!« Natürlich war damit nicht der Tod jenes »Dichters« gemeint; er war nicht der erste, und er wird nicht der letzte gewesen sein, der sich seine Phrasen aus der Haut der andern schneidet. Auch die spanische Diktatur hatte die Auslieferung von Ascaso, Durruti und Jover verlangt — sie warf ihnen verschiedene politische Attentate vor , jedoch vergeblich. Das offizielle Frankreich wollte sein liberales Gesicht wahren. Letzten Endes war das Ganze freilich eine Komödie der Heuchelei, ein Spiel, das mit der spanischen und der argentinischen Regierung abgekartet worden war. Den dreien sollte zwar die spanische Garrotte erspart bleiben, aber dafür war ihnen lebenslänglich Zuchthaus auf den Schreckensinseln von Feuerland zugedacht. Die Umstände, unter denen wir die Verteidigung der »Drei Musketiere« übernahmen, waren nicht gerade günstig. Die Polizei hatte damals unumschränkte Befugnisse, über das Los »verdächtiger« Ausländer und über ihre Abschiebung zu entscheiden. Berufungsmöglichkeiten für die Betroffenen gab es nicht. Nur die Regierang konnte gegen die Verfügungen der Polizei Einsprach erheben. Aber der Ministerpräsident hieß Poincare, und sein Innenminister Barthou. Diese Leute waren feige, und es wäre leichtfertig gewesen, sich auf ihre besseren Regungen zu verlassen. Man mußte ihnen also angst machen, die Öffentlichkeit in Bewegung setzen. Ich dachte von Anfang an daran, die einflußreiche Liga für Menschenrechte auf unsere Seite zu ziehen, obwohl diese hasenfüßige Organisation hauptsächlich damit beschäftigt war, Tote aus dem Ersten Weltkrieg zu rehabilitieren und sich einiger Liberaler anzunehmen, die sich zu weit vorgewagt hatten. Aber Anarchisten? Diese Außenseiter, von denen viele Leute nur mit Schaudern hörten? Ich suchte zunächst eine grande dame auf, die ich kannte: Mme Severine. Sie empfing mich wohlwollend: »Was kann ich für Sie tun, Lecoin?« Ich erklärte ihr mit ein paar Worten, worum es ging. Sie verlangte keinerlei Beweise für die Unschuld der Genossen.
»Gut, Lecoin, ich werde Ihnen ein Billet an Mme Mesnard-Dorian geben. Sie ist in der Liga allmächtig und kann recht liebenswürdig sein. Sie werden schon sehen.« Madame Mesnard bewohnte ein Stadtpalais in der Rue de la Faisanderie.
In ihrem Salon verkehrte alles, was in der Republik Rang und Namen hatte. Sie rief sofort den Präsidenten der Liga an, Victor Basch. Daraufhin suchte ich ihn auf. Der Empfang war eher sonderbar: »Sie sind schuldig, Ihre Freunde«, rief Basch. »Ich weiß es; der Vertreter unserer Liga in Buenos Aires hat mich informiert.«
Ich erwiderte ihm, er urteile leichtfertiger als der schlimmste Richter, das heißt, auf Grund eines Aktendeckels, der leer sei. Da sagte er ganz unvermittelt: »Diese Anarchisten möchte ich sehen, wenn sie erst einmal an der Spitze einer Regierung stehen!«
»Ihr Wunsch zeugt von einer absoluten Unkenntnis des anarchistischen Gedankens!« antwortete ich.
Er wurde sofort sehr wütend. Ich hatte vergessen, daß er Professor an der Sorbonne war und vor Jahren ein Buch über den Anarchismus veröffentlicht hatte.
Ich verließ ihn, ohne daß er sfch beruhigt hätte. Wir waren überzeugt, daß wir ein Fiasko erlitten hatten. Aber wir hatten uns getäuscht. Noch am selben Abend rief Guernut, der Generalsekretär der Liga, bei mir an und bat mich, ihm unsere Unterlagen über die Affäre »Ascaso&Co« zu geben. Dieses »&Co« schien mir zwar nicht
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