Der kurze Sommer der Anarchie
Interpellation. Manchen Abgeordneten ist es wohl wirklich um die Gerechtigkeit gegangen; andere wollten die Gelegenheit nutzen, um die Regierung Poincare zu stürzen. Dazu konnte es ohne weiteres kommen, falls der Ministerpräsident die Vertrauensfrage stellte. Die Wandelsäle schwirrten von Gerüchten und Spekulationen. Aber Poincare, der kein Anfänger war, sah das Ergebnis voraus und sandte mir kurz vor der Mittagspause einen Unterhändler, seinen treuen •Hofhund und Vertrauten Malvy, den Vorsitzenden des Finanzausschusses.
»Also, Lecoin, was wollen Sie eigentlich?«, fragte er. »Liegt Ihnen wirklich soviel am Sturz der Regierung?« »Überhaupt nichts liegt mir daran. Wir verlangen nur eins: die Freilassung von Ascaso, Durruti und Jover.« »Ich fahre sofort zum Ministerpräsidenten. Bitte finden Sie sich um zwei Uhr wieder hier ein. Ich werde Ihnen seine Entscheidung mitteilen.« Es kam nicht mehr zur Abstimmung. Barthou und Poincare zogen es vor, zu kapitulieren. Man schrieb den Juli 1927.
Am andern Tag fanden wir uns vor dem Tor der Conciergerie am Quai des Orfevres ein, umgeben von einer Meute von Journalisten und Photographen. Die Tür öffnete sich. Da waren sie:
Ascaso, Durruti und Jover.
Louis Lecoin
Der hartnäckige Lecoin, der halb dem Zauberer Merlin und halb einem Kapuzinerprediger glich, überwand mit seiner geschickten Strategie alle Hindernisse. Im Juli 1927 öffneten sich die Pforten der Conciergerie. Mein Mitarbeiter war der erste, der den Gefangenen die gute Nachricht überbrachte:
»In weniger als einer Stunde werden Sie frei sein. Was haben Sie vor?« Nach einem Augenblick des Schweigens antwortete Durruti bedächtig: »Wir werden weitermachen... in Spanien.«
Henri Torres
Die Gefährtin
Natürlich haben wir nie geheiratet, Buenaventura und ich.
Wo denken Sie hin? Aufs Standesamt zu gehen, das ist unter Anarchisten nicht üblich. Wir haben uns in Paris getroffen. Das muß 1927 gewesen sein. Er kam gerade aus dem Gefängnis. In ganz Frankreich hatte es eine riesige Kampagne gegeben, die Regie rung hatte nachgegeben, die drei Musketiere — das war ein Spitzname, den die Presse erfunden hatte - wurden freigelassen.
Durruti kam heraus, am selben Abend besuchte er ein paar Freunde, ich war dabei, wir sahen uns, haben uns Hals über Kopf verliebt, und dabei ist es geblieben.
Emilienne Morin
Nachdem sich Belgien und Luxemburg geweigert hatten, sie aufzunehmen, versuchten ihre Freunde, in der Sowjetunion ein Asyl für sie zu finden. Das scheiterte an den politischen Bedingungen, die die russische Regierung ihnen stellte; sie waren für Anarchisten unannehmbar. Es blieb ihnen also nichts anderes übrig, als unter falschem Namen nach Paris zurückzukehren.
Einige Genossen hielten sie monatelang versteckt. Schließlich fanden sie Arbeit in Lyon. Nach einem halben Jahr entdeckte die Polizei, wer sie waren. Sie wurden vor Gericht gestellt und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie gegen den Ausweisungsbefehl verstoßen hatten.
Jose Peirats 1
In Lyon sahen wir uns wieder. Das war nun schon der zweite Prozeß. Sie hatten herausgefunden, daß Buenaventura dort ohne Papiere lebte. Ich erinnere mich, daß ich mit Ascasos Freundin hingefahren bin. Das war das erste Gefängnis, das ich von innen gesehen habe. Dann wurden wir wieder getrennt, denn nach ihrer Freilassung wurden die beiden auf dem schnellsten Weg nach Belgien abgeschoben. Dort natürlich dasselbe, Scherereien mit der Polizei, keine Aufenthaltserlaubnis. Sie sind dann ja auch für eine Weile nach Deutschland gegangen. Ich weiß nicht mehr genau, wann das war.
Emilienne Morin
Unerwünschte Ausländer
Im Jahre 1928 ist Durruti dann, zusammen mit seinem Freund Ascaso, nach Berlin gekommen, natürlich illegal.
Nun handelte es sich darum, für die beiden eine Unterkunft zu finden. Durruti hat ein paar Wochen lang bei mir gewohnt, in Berlin-Wilmersdorf, Augustastraße 62, im vierten Stock.
Aber wenn er Arbeit finden wollte, mußte er polizeilich angemeldet sein. Deshalb versuchte ich, eine Aufenthaltserlaubnis für ihn zu bekommen.
Die preußische Regierung war damals eine Koalition von Sozialdemokraten und Zentrumspartei. Ich kannte zufällig den Justizminister Kurt Rosenfeld. Den suchte ich auf und bat ihn, Durrutis Aufenthalt zu legalisieren. Er erklärte, daß das nicht möglich sei, weil das Zentrum bestimmt die Geschichte mit dem Attentat aufgreifen würde, Sie wissen, das angebliche Attentat auf den Erzbischof von
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