Der kurze Sommer der Anarchie
Organisationsform erlaubte es ihr, zu überwintern und mit regenerierten Kräften plötzlich wieder hervorzutreten. Aber das republikanische Regime verdankte seine Existenz keiner revolutionären Bewegung, sondern einer unblutigen und halbherzigen Wachablösung. Das Karussell der liberalen und bürgerlichen Parteien, der Regierungskrisen und Neuwahlen begann sich zu drehen. Zum Zünglein an der Waage wurden nun die Parteien »der Mitte«, das heißt, des zahlenmäßig und ökonomisch schwachen Kleinbürgertums, die gewöhnlich mit der stillschweigenden, aber passiven Billigung der Sozialdemokratie regierten. Mit andern Worten: die soziale Basis der Republik war lächerlich schwach; ihre politische Kraft zog sie einzig und allein aus der Tatsache, daß das Interessenkartell der Rechten und die Arbeiterbewegung einander gegenseitig blockierten. Entsprechend gering war die Manövrierfähigkeit der neuen Regierung. An strukturelle Reformen war nicht zu denken. Die Agrarfrage blieb ungelöst. Die Bodenreformgesetze wurden sabotiert. Neben einigen Ansätzen zur Trennung von Staat und Kirche ist für die ersten Jahre der Republik nur ein konstruktiver Schritt zu verzeichnen: die Gewährung eines Autonomiestatutes für Katalonien.
Die Probleme der Arbeiter und der Bauern blieben ohne Antwort. Ihre größte organisierte Kraft, die anarchistische Bewegung, boykottierte das Parlament. Die enttäuschten Massen gingen von neuem auf die Straße. Streiks, Bauernaufstände, Hungerrevolten, Stadtguerilla: die Regierung wußte der direkten Aktion der arbeitenden Klassen nicht anders zu begegnen als ihre Vorgänger, nämlich mit der Polizei, mit der Guardia Civil und im Notfall mit der Armee.
Der Ausnahmezustand wurde zur Routine.
Im dritten Jahr der Republik schloß sich die spanische Zwickmühle von neuem. Infolge der Wahlenthaltung der Anarchisten fiel der Reaktion die Regierungsmacht mühelos und auf ganz legale Weise zu: ein neugebildeter Wahlblock der Rechten, die CEDA, zog ins Parlament ein. Die Regierung Gil Robles machte sich sofort daran, die spärlichen Errungenschaften der Republik zu widerrufen. Es begann das bienio negro, die Zeit der »zwei schwarzen Jahre« von 1933 bis 1935. Das strategische Ziel der Rechten war natürlich die Vernichtung der Arbeiterbewegung. Aber Gil Robles war kein Faschist. Während Hitler mit seiner Konterrevolution die deutsche Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit veränderte, während die deutschen Monopole die Wirtschaftsstruktur des Landes rücksichtslos modernisierten, während das Deutsche Reich sich zur Offensive rüstete, um die Weltherrschaft zu erlangen, interessierte sich die spanische Rechte nur für die Restauration einer Vergangenheit, die ihrerseits längst anachronistisch gewesen war. Die einzige Bewegung, zu der sie fähig schien, war der Krebsgang. Aber auch er konnte nur mit Gewalt unternommen werden.
In dieser Lage sahen die spanischen Sozialdemokraten sich vor die Frage ihrer Existenz gestellt. Ihre alte Politik der Kollaboration war gescheitert- sie weiter zu verfolgen, hätte an Selbstmord gegrenzt. Der Druck der Basis auf die reformistische Parteispitze nahm zu. Unter diesen Umständen entschloß sich der Führer der Sozialdemokratie, Largo Caballero, zu einer plötzlichen Kehrtwendung. Er kündigte sein Bündnis mit den republikanischen Parteien des liberalen Bürgertums auf und bereitete seine Anhänger auf den bewaffneten Widerstand vor. Plötzlich flammten in der sozialdemokratisch geführten Gewerkschaft UGT leninistische Parolen auf. Im Oktober 1934 kam es in Asturien, einer Hochburg der UGT, zu einem Aufstand, der die bewaffneten Aktionen der Anarchisten weit in den Schatten stellte. Diese asturische »Oktoberrevolution« ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Seit den Tagen der Pariser Kommune hatte das westliche Europa nichts Vergleichbares gesehen. » Vereinigt euch, proletarische Brüder. ‘« Unter dieser Losung erhoben sich im Norden Spaniens ganze Provinzen. Sofort kam es zur Bildung von Arbeiterräten; die Führung in Madrid verlor die Kontrolle über die Bewegung; alte Rivalitäten wurden über Nacht hinweggefegt; in Asturien vereinigten sich Sozialdemokraten, Anarchisten und Kommunisten im Kampf gegen die Regierungstruppen.
Die Tragik der asturischen Revolution liegt darin, daß sie von Anfang an isoliert blieb, begrenzt auf eine abgelegene Region, abgeschnitten von den Zentren des Landes. In Madrid war der Aufstand im Keim erstickt worden. In Barcelona
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