Der kurze Sommer der Anarchie
was in Spanien geschehen ist, ziehen läßt. Dieser Schluß wird durch alles, was wir über die russische Revolution wissen, nur allzusehr bestätigt. Es ist einfach nicht wahr, daß die Revolution automatisch ein höheres, klareres und intensiveres Bewußtsein vom sozialen Prozeß hervorbringt. Das Gegenteil trifft zu, wenigstens wenn die Revolution die Gestalt des Bürgerkriegs annimmt. Im Sturm des Bürgerkriegs geht jedes Verhältnis zwischen den Prinzipien und der Wirklichkeit verloren; es verschwindet jedes Kriterium, nach dem sich über Handlungen und Institutionen urteilen ließe; die Umwälzung der Gesellschaft wird zum Spielball des bloßen Zufalls. Wie sollte da, nach einem kurzen Aufenthalt, auf Grund bruchstückhafter Beobachtungen, ein zusammenhängender Bericht möglich sein? Im besten Fall kann man einige Eindrücke wiedergeben und einige wenige Lehren daraus ziehen.
Simone Weil
Ich werde viele gute Genossen schockieren. Ich weiß, daß ich Skandal erregen werde. Aber wenn man sich auf die Freiheit beruft, muß man den Mut haben, zu sagen, was man denkt, selbst wenn man niemanden damit erfreut.
Wir verfolgen alle Tag für Tag mit angehaltenem Atem den Kampf, der sich jenseits der Pyrenäen abspielt. Wir versuchen, unserer Seite zu helfen. Aber das spricht uns nicht davon frei, daß wir aus einer Erfahrung, die so viele Arbeiter und Bauern dort mit ihrem Blut bezahlen, Lehren zu ziehen haben. Eine Erfahrung dieser Art ist in Europa schon einmal gemacht worden: die russische. Auch sie hat viel Blut gekostet. Lenin hat damals vor aller Welt einen Staat gefordert, in dem es keine Armee, keine Polizei und keine Bürokratie mehr geben sollte, die sich von der Bevölkerung selbst unterschiede. Als er und die Seinen an die Macht gekommen waren, haben sie im Verlauf eines langen und schmerzhaften Bürgerkrieges die drückendste bürokratische Militär- und Polizeimaschine aufgebaut, unter der je ein unglückliches Volk gelitten hat.
Lenin war der Führer einer politischen Partei, eines Apparates zur Eroberung und Ausübung der Macht. Viele haben damals schon seine Aufrichtigkeit und die seiner Genossen bezweifelt; jedenfalls lag der Gedanke nahe, daß zwischen den Zielen, die Lenin proklamierte, und der Struktur seiner Partei ein Widerspruch bestehe. Dagegen wird niemand die Aufrichtigkeit unserer anarchistischen Genossen in Katalonien in Zweifel ziehen können. Und doch, was spielt sich vor unseren Augen in Spanien ab? Wir sehen, wie sich Formen des Zwanges entwickeln und Fälle von Unmenschlichkeit ereignen, die dem menschlichen und freiheitlichen Ideal der Anarchisten direkt entgegengesetzt sind. Die Notwendigkeiten des Bürgerkriegs und seine Atmosphäre gewinnen die Oberhand über die Wünsche, zu deren Verwirklichung der Bürgerkrieg begonnen worden ist. Wir hassen hier, in unserer eigenen Gesellschaft, den militärischen Zwang, die Polizei, die Unterdrückung am Arbeitsplatz, die Lügen, welche Presse und Rundfunk verbreiten. Wir hassen die Klassenunterschiede, die Willkür und die Grausamkeit. In Spanien aber herrscht militärischer Zwang. Obwohl der Strom der Freiwilligen nicht abreißt, ist die Mobilmachung beschlossen worden, die allgemeine Wehrpflicht. Der Verteidigungsrat der Generalität, in dem unsere Genossen von der FAI leitende Funktionen ausüben, hat verfügt, daß das alte Militärstrafrecht auf die Milizen angewendet werden soll. Auch in den Betrieben herrscht ein Zwangsregime. Die katalanische Regierung, in der unsere Genossen die wirtschaftlich ent scheidenden Ministerien beherrschen, hat soeben verfügt, daß die Arbeiter so viele unbezahlte Überstunden leisten müssen wie die Regierung für nötig hält. Ein anderes Dekret sieht vor, daß jeder Arbeiter, der seine Normen nicht erfüllt, als Aufständischer zu betrachten und entsprechend zu behandeln ist. Das bedeutet ganz einfach die Anwendung der Todesstrafe in der Industrieproduktion.
Die traditionelle Polizei, wie sie vor dem 19. Juli bestand, hat ihre Macht fast völlig eingebüßt. Dafür haben in den ersten drei Monaten des Bürgerkriegs die Untersuchungsausschüsse, die politisch Verantwortlichen und oft genug auch unverantwortliche Einzelne Erschießungen ohne auch nur den Schein eines gerichtlichen Urteils vorgenommen und ohne irgendeine Kontrollmöglichkeit von seiten der Gewerkschaften oder von irgendeiner anderen Seite. Erst vor ein paar Tagen sind endlich Volksgerichte eingerichtet worden, die über Aufständische,
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