Der kurze Sommer der Anarchie
wirkliche und nur so genannte, zu urteilen haben. Es ist noch zu früh, um zu sagen, welche Wirkung diese Reform haben wird.
Auch die organisierte Lüge ist seit dem 19. Juli wieder auferstanden . . .
Simone Weil
Von meiner Kindheit an habe ich mit den politischen Gruppierungen sympathisiert, die auf Seiten der Erniedrigten stehen, auf seiten jener, die von der sozialen Hierarchie erdrückt werden — bis ich mir darüber klar geworden bin, daß diese politischen Gruppen keine Sympathie verdienen. Die letzte, von der ich mir etwas versprochen hatte, war die spanische CNT. Ich war vor dem Bürgerkrieg nach Spanien gefahren und kannte das Land, nicht gut, aber gut genug, um dieses Volk, dem schwer zu widerstehen ist, zu lieben; in der anarchistischen Bewegung hatte ich den natürlichen Ausdruck seiner Größe und seiner Fehler, seiner legitimen Bedürfnisse und seiner illegitimen Wünsche gesehen. Die CNT und die FAI waren ein erstaunliches Gemisch. Jeder war dort willkommen und hatte Zutritt, und infolgedessen trafen in diesen Organisationen auf engstem Raum unvereinbare Gegensätze aufeinander: einerseits Zynismus, moralische Verkommenheit, Fanatismus und Grausamkeit, andererseits Brüderlichkeit, Menschenliebe und ein elementares Verlangen nach Würde, wie es einfachen Menschen eigen ist.
Was die ersteren trieb, war ihr Geschmack an der Unordnung und an der Gewalt; die letzteren aber kamen, um ein Ideal zu verwirklichen: sie bestimmten, wie mir schien, die Richtung, welche die CNT einschlug.
Im Juli 1936 war ich in Paris. Ich liebe den Krieg nicht; aber was mir im Krieg immer am entsetzlichsten vorgekommen ist, das ist die Situation derer, die in der Etappe bleiben. Als ich einsehen mußte, daß ich, und wäre es wider Willen, moralisch Partei ergriff in diesem Krieg, das heißt: daß ich jeden Tag und jede Stunde den Sieg der einen und die Niederlage der anderen Partei herbeisehnte, mußte ich mir sagen, daß Paris, was mich betraf, Etappe war. Ich nahm den Zug nach Barcelona, um mich freiwillig zu melden. Das war Anfang August 1936. Ein Unfall zwang mich, meinen Aufenthalt in Spanien abzubrechen. Ich habe mich ein paar Tage lang in Barcelona aufgehalten; dann auf dem Land, in Aragon, am Ufer des Ebro, fünfzehn Kilometer vor Zaragoza, an der gleichen Stelle, an der kürzlich Yagües Truppen den Fluß überquerten; dann im Palast von Sitges, der heute als Lazarett dient; dann von neuem in Barcelona; alles in allem etwa zwei Monate. Ich habe Spanien gegen meinen Willen verlassen müssen; ich hatte die Absicht, zurückzukehren. Ich habe aus freien Stücken darauf verzichtet. Ich fühlte keine innere Notwendigkeit, an einem Krieg teilzunehmen, der nicht länger, wie ich anfangs gedacht hatte, hungrige Bauernmassen den Gutsbesitzern und ihren Komplizen, den Pfarrern, gegenüberstellte, sondern die europäischen Mächte miteinander konfrontierte: Rußland, Deutschland und Italien.
Simone Weil
Der Mangel
Schon als die zweite Kolonne für die Aragon-Front aufgestellt wurde, hatten wir die ersten Schwierigkeiten mit einigen bedeutenden Politikern unserer eigenen anarchistischen Organisationen. Während wir vom Milizenkomitee der Ansicht waren, daß die populärsten und fähigsten Genossen an die Front gehen sollten, um dort Hundertschaften, Bataillone und Kolonnen zu befehligen, vertraten sie die entgegengesetzte Meinung: sie wollten die besten Führer für die Zeit nach dem Kriege aufsparen.
Das lief aber mit Sicherheit darauf hinaus, daß die Befehls spitzen nach dem Gesetz des Zufalls besetzt wurden, und damit sank die Kampfkraft unserer Einheiten. Über ausgebildete Offiziere verfügten wir kaum, und die wir hatten, setzten wir als Generalstäbler oder als technische Berater ein. Unsere Milizsoldaten mochten die Berufsmilitärs nicht, sie mißtrauten ihnen, und das war, nach allem, was früher vorgefallen war, auch verständlich.
Aber fast die gesamte Führung unserer Organisationen zeigte sich in den höheren Rängen ebenso um das eigene Wohl besorgt wie die anderer Parteien, von denen keine ihre führenden Leute an die Front schicken wollte. Sie warteten alle darauf, das Fell des Bären zu verteilen, der noch nicht erlegt war. Deshalb wimmelte es im Hinterland von den Geschäftemachern der Politik. Oft waren sie noch ekelhafter als die alten Berufspolitiker aus der Zeit vor der Revolution.
Wir können diese Haltung nicht mit Stillschweigen übergehen, denn sie ist schuld daran, daß wir die Front nicht derart
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