Der Kuss der Göttin (German Edition)
weiter nichts gebe und er jetzt alle meine tiefen, dunklen Geheimnisse kenne. Und es war eine unglaubliche Erleichterung, es ihm zu sagen. Mit den Lügen aufzuhören.
Wenigstens einem Menschen gegenüber.
Ich glaube, das war der Tag, an dem ich merkte, dass ich mich in ihn verknallte.
Nicht, dass zwischen uns je etwas sein wird. Wahrscheinlich. Er ist so auf die Schule konzentriert und ich … Ich bin ziemlich kaputt. Nicht nur meine Verletzungen. Ich habe mich verändert . Ich kann es zwar nicht direkt benennen, aber ich kann es auch nicht leugnen. Es fällt mir schwerer als früher, mich zu konzentrieren. Eigentlich fällt mir alles schwerer. Meine Hirnverletzung galt als mittelschwer, und meine Genesung wurde von den Ärzten als »ein Wunder« bezeichnet, aber das Leben an sich ist jetzt ein winziges bisschen weniger normal, einen Hauch weniger instinktiv. Ein bisschen weniger … alles. Im Großen und Ganzen habe ich mich damit abgefunden. Aber ich weiß nicht, ob ich schon bereit für eine echte Beziehung mit jemandem bin. Oder überhaupt irgendwann in nächster Zeit. Mein Leben ist ein Durcheinander aus Ungewissheit.
Abgesehen davon hat er dieses Mädchen. Dana. Ich habe sie bisher nicht kennengelernt – ich will sie gar nicht kennenlernen –, aber anscheinend ist sie wunderschön und lustig und klug und toll und … na ja, ein Engel auf Erden, sagt Benson. Sie sind nicht zusammen. Noch nicht, wie Benson sagt. Aber er spricht pausenlos von ihr.
Wenn ich es nicht schaffe, das Thema zu wechseln.
Mich nimmt er gar nicht richtig wahr; zumindest nicht so. Und ich will bestimmt nicht seine Freundschaft verlieren, nur weil ich nicht beides haben kann.
Ich schiebe mein Selbstmitleid beiseite, senke den Blick und merke, dass ich unterbewusst vor mich hingemalt habe. Nur Gekritzel. Eigentlich habe ich nur meinen Bleistift hin- und hergeschoben. Aber …
Aber …
Ich drehe das Papier seitlich und schlucke trocken, während ein Adrenalinstoß in meinen Armen prickelt. Die dunklen Kleckse sehen eindeutig aus wie der Schatten von jemandem.
Der Schatten eines Typen. Ein Typ, der groß und schmal ist und andeutungsweise einen Pferdeschwanz hat.
Ich lasse den Stift aus den Fingern gleiten und balle die Fäuste, versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Meine Panik entspringt jetzt einer ganz anderen Quelle.
Ich habe nichts mehr gezeichnet, seit mein Flugzeug abstürzte. Nicht dass ich es nicht versucht hätte. Aber Kunst ist das Symbol meiner zerstörten Träume.
Und der Grund, warum meine Eltern tot sind.
Ich weiß, dass es im Grunde irrational ist, aber wenn ich nicht darauf bestanden hätte, zu der schicken Kunstakademie zu reisen, die mir ein Stipendium angeboten hatte, wären wir nie in dieses Flugzeug gestiegen. Elizabeth sagt mir ständig, das seien falsche Schuldzuweisungen. Aber das zu wissen und es zu fühlen, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Jeden Tag kämpfe ich gegen die Schuld.
Manchmal gewinne ich.
An den meisten Tagen verliere ich.
Jemand von der Schule – der Huntington Academy of the Arts – hat meine Arbeiten gesehen, als sie im Michigan State Capitol ausgestellt wurden. Sie haben mich kontaktiert und eine Mappe mit allen Bildern angefordert, die ich je gemacht habe, lockten mich mit Hochglanzbroschüren des schönen Campus, wo die Studenten offensichtlich in ihrer Freizeit ihre Staffeleien nach draußen bringen und Sonnenuntergänge malen konnten.
Mom und Dad waren erst skeptisch, aber als die Schule mir ein Vollstipendium in Höhe von 50 000 Dollar für mein letztes Highschool-Jahr anbot, mussten sie mir zumindest erlauben, es mir anzusehen. Nach dem Absturz war ich überrascht, als ich merkte, dass ich immer noch hingehen wollte. Es fühlte sich falsch an, aber etwas in mir wollte immer noch zurückfordern, was ich verloren hatte.
Aber das erste Mal, als ich versuchte, einen Stift in die Hand zu nehmen, fiel er mir aus den Fingern. Ich konnte das dumme Ding nicht einmal halten. Die Ärzte sagten mir, das sei, weil mein Gehirn noch nicht wieder ganz gesund sei; sie gehen davon aus, dass ich durch die Physiotherapie meine motorischen Fähigkeiten zurückgewinnen werde.
Durch Physiotherapie und mit der Zeit.
Ich bestand darauf, dass Reese in Huntington anrief. Nachdem sie alles erklärt hatte, war ich überrascht, wie bereitwillig sie mein Stipendium verschoben – damit ich im Januar anfangen konnte, wenn meine Verletzungen verheilt waren.
Doch der Herbst verging, und ich
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