Der Kuss der Göttin (German Edition)
anzufangen – tausend Meilen von meinem alten Leben entfernt. Erst dachte ich, sie wollten nur nicht umziehen, und ich konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Aber inzwischen glaube ich, sie hatten recht. Es gefällt mir, an einem neuen Ort zu sein – wo ich nicht sofort das arme Mädchen bin, das beide Eltern verloren hat. Gebrochen und verwaist. Irgendetwas sagt mir, dass es von keinem dieser beiden Umstände einen Weg zurück zur Normalität gibt, erst recht nicht, wenn man beides ist.
Außerdem verschafft mir der Unterricht eine Entschuldigung, fast jeden Tag aus dem Haus und hierher zu kommen, um Benson zu sehen. Nicht, dass ich eine Ausrede bräuchte, aber ich will nicht, dass Reese und Jay glauben, ich wolle weg von ihnen.
Das will ich auch nicht … unbedingt. Es ist nur komisch, jeden Tag von morgens bis abends mit Reese zu Hause zu sein. Ich bin achtzehn; ich sollte draußen sein und Highschool-Sachen machen. Zu Football-Spielen gehen, im Schultheater mitspielen, bei McDonald’s herumhängen und mein eigenes Gewicht in Pommes Frites essen. Die Dinge, zu denen ich mich damals in Michigan ab und zu von meinen Freunden mitschleppen lassen habe. Die Dinge, die ich in meinem letzten Highschool-Jahr an meiner neuen Kunstschule öfters tun wollte. Vielleicht sogar mit einem Jungen – einem netten Künstlertypen.
Und dann stürzten meine Pläne zusammen mit dem Flugzeug ab.
Solche Dinge interessieren mich nicht mehr. Ich hatte akzeptiert, dass ich ein einsames letztes Highschool-Jahr haben würde, als mich eine Englisch-Aufgabe vor ein paar Monaten zum ersten Mal in die Bibliothek führte und Benson Ryder sich mir vorstellte.
Und mir dann beibrachte, wie man Mikrofiches benutzt. Freundschaft auf den ersten Blick.
Buchstäblich.
Ich setze mich auf einen Stuhl an unserem üblichen Tisch und knete die Muskeln meines rechten Beines – nach dem Fußmarsch von einem Kilometer hierher tun sie immer ein bisschen weh –, bevor ich mich in der spärlich besuchten Bibliothek umsehe. Es ist nie viel los zwischen neun und vier, es sei denn, eine der örtlichen Grundschulen macht einen Ausflug. Am Nachmittag, wenn die Schule aus ist, wird es voller, aber einer der Vorteile der Online-Schule ist, dass ich in die Bibliothek gehen kann, wann ich will.
Außerdem hat Benson eher Zeit, mit mir zu »lernen«, wenn weniger Leute da sind, die seine Hilfe brauchen – oder unser Gespräch belauschen.
Als ich gerade meine Schulbücher aus dem Rucksack holen will, sehe ich bestürzt, dass meine Hände zittern. Bin ich nervös, weil ich es Benson erzählen will? Das kann es eigentlich nicht sein. Vielleicht bin ich einfach fertig von allem, was passiert ist.
Und ich weiß nicht so recht, wie genau ich Benson von dem blonden Typen von gestern erzählen soll.
Und von letzter Nacht.
Von heute Morgen, um genau zu sein.
Ich kenne nicht einmal seinen Namen, aber es fühlt sich irgendwie besonders an. Mein Geheimnis. Nicht die Art Geheimnis, mit dem man sich schuldig und innerlich leer fühlt; er ist ein Cappuccino-Geheimnis – etwas Süßes und Schaumiges, das mich von innen heraus wärmt.
Trotzdem muss ich es Benson sagen. Ich sollte es irgendwem erzählen, für den Fall … für den Fall, dass dieser Typ gefährlich ist. Obwohl schon der bloße Gedanke den Reflex in mir auslöst, ihn verteidigen zu wollen.
Als würde ich ihn kennen .
Benson wird es verstehen, oder? Benson weiß alles über mich. Alles . Es war ein langsamer Prozess – man geht nicht einfach zu jemandem hin und sagt: »Hi! Ich bin eine verwaiste einzige Überlebende des größten Flugzeugabsturzes in der Geschichte, und ich verstecke mich seit einem halben Jahr vor den Medien, und übrigens, habe ich erwähnt, dass ich mich immer noch von einem Schädel-Hirn-Trauma erhole?«
Aber langsam – und ohne dass ich es bewusst vorhatte – ist irgendwie alles aus mir herausgeflossen. Vor ungefähr einem Monat, als ich endlich gestanden habe, dass der »Autounfall« eigentlich ein Flugzeugabsturz war, erwartete ich, dass Benson sauer sei. Diesbezüglich hatte ich ihn direkt angelogen. Mehr als einmal.
Er lachte nur, breitete die Arme aus und fragte: »Ernsthaft, gibt es sonst noch etwas, das ich von dir wissen sollte? Eine längst verloren geglaubte Zwillingsschwester? Ein heimliches Baby? Ein Zehennagel-Fetisch?«
Ich liebe es, wie er mich dazu bringt, über mich selbst zu lachen.
Aber sein Lächeln war ein bisschen gezwungen, bis ich ihm versicherte, dass es
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