Der Kuss der Göttin (German Edition)
Spaltbreit geöffneten Tür vorbei in mein Zimmer, bevor sie mich erwischt. Meine Make-up-Tasche steht auf dem Schminktisch. Ich ziehe meinen besten Abdeckstift heraus und untersuche den Kratzer zum ersten Mal in einem ordentlichen Spiegel.
Er ist wirklich nicht so schlimm; er brennt nur wie verrückt.
Ich tupfe Make-up darauf, und er brennt noch mehr, aber wenigstens ist er jetzt kaum noch zu sehen. Mit ein bisschen Puder schließe ich ab und prüfe meine Arbeit.
Ziemlich gut.
Gestresst sehe ich aber immer noch aus. Dagegen gibt es kein Make-up. Es ist etwas in den Augen. Aber ich glaube, ich habe guten Grund dazu. Ich habe genug davon, die Psychosachen aufzulisten, die mir in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert sind. Genug davon, mir zu überlegen, wie ich Elizabeth das alles erzählen soll, ohne zu klingen, als hätte ich ein paar riesige Schritte in meinem Genesungsprozess rückwärts gemacht.
Ich meide den Augenkontakt mit mir selbst und fahre mir mit den Händen durch die kurzen, dunklen Haare, aber alles, was ich damit erreiche, ist, dass sie wild und ungekämmt aussehen. Mit einem Seufzen glätte ich sie wieder und klicke meine Puderdose zu.
Früher waren sie nicht kurz. Ich wünschte, sie würden schneller wachsen.
Sie haben mir die rechte Seite für die Operation rasiert, und als die Verbände schließlich abgenommen wurden, war diese Seite mit verfilzten Fusseln bedeckt, während die andere Seite mir immer noch über den halben Rücken reichte.
Das war das erste Mal, dass ich weinte. Bis dahin war alles taub, und ich fühlte mich abgeschnitten – als passiere all dieser Medizinkram jemand anderem. Jemandem ohne Eltern und sehr wenig Chancen auf ein normales Leben.
Nicht mir .
Aber die Haare. Die Haare gehörten mir.
Und wenn die Haare mir gehörten, gehörte mir auch der Rest. Das kaputte Gehirn, die toten Eltern, das alles. Meins.
Wenigstens wegen der Haare konnte ich etwas tun. Auf der Stelle beschloss ich, die andere Seite auch zu rasieren, sodass es wenigstens zusammenpasste. Ich weiß nicht, ob es die falsche Entscheidung war, denn ein rasierter Kopf entspricht nicht so ganz meiner Vorstellung von hübsch.
Ich fand, er ließ mich geisteskrank aussehen.
Vor zweihundert Jahren schor man allen »Patienten« in Anstalten die Haare, damit sie keine Läuse und Nissen bekamen. Also fühlte ich mich wochenlang nach der Operation jedes Mal, wenn ich mich mit meinen Stoppelhaaren und dem Krankenhausnachthemd irgendwo in einem Spiegel sah, wie eine Gefangene in einem altmodischen Irrenhaus.
Das fand ich ganz passend.
Vorsichtig betaste ich die Narbe auf meinem Kopf und befühle die erhobene Kante. Die Ärzte haben mir gesagt, sie wird mit der Zeit flacher und unauffälliger werden, aber sie wird immer da sein. Sie ist ungefähr zwanzig Zentimeter lang und erstreckt sich von meinem Haaransatz an der rechten Kopfseite diagonal nach hinten. Zum Glück verdeckten meine Haare, seit sie gut sieben Zentimeter lang waren, die Narbe fast ganz. Die zehn Zentimeter, die ich jetzt habe, sind dunkel genug, dass man sie gar nicht mehr sehen kann, solange ich mir nicht mit den Fingern durch die Haare fahre.
Das tue ich nicht in der Öffentlichkeit; ich bin sehr vorsichtig.
Dennoch könnte vielleicht ein Friseurbesuch helfen.
»Wie war die Physio?«, fragt Reese und lässt mich zusammenzucken. Wenigstens hat sie gewartet, bis ich die Beweise meiner neuesten Verletzung versteckt habe, bevor sie in meinem Zimmer vorbeischaut.
»So gut, wie Folter eben sein kann«, murmle ich und schiebe meine Make-up-Tasche zur Seite. Mein Bein tut immer noch weh.
»Und wie war deine Sitzung mit Dr. Stanley gestern?«, fährt sie fort. Reese und Jay haben offensichtlich das Memo über die Sache mit dem Duzen nicht bekommen; sie nennen sie immer noch Dr. Stanley.
»Gut«, sage ich und schäle mich aus meinem Pulli; von dem ganzen Adrenalin wird mir zu warm. Die Luft vom offenen Fenster kühlt meine prickelnde Haut.
»Dann läuft es also gut?«, fragt sie. »Fortschritte?«
Ich blicke misstrauisch zu ihr auf; so viel forscht sie normalerweise nicht nach. Oder vielleicht habe ich es auch nur nie bemerkt, aber heute macht mich alles paranoid.
»Ich frage nur«, sagt Reese eilig, »weil ich irgendwann nächste Woche einen Klienten außerhalb der Stadt treffen muss. Ich überlege, wie du es wohl finden würdest, wenn ich ein paar Tage weg bin.«
»Oh, das wäre total in Ordnung«, sage ich zu schnell. »Fährt Jay
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