Der Kuss der Göttin (German Edition)
mit?«
»Schön wär’s. Aber er hat ein neues Projekt. Sie lassen ihn im Moment auf keinen Fall eine Woche freinehmen.« Sie lehnt an meinem Türrahmen, ihre Stimme ist abwesend – wehmütig. Hätte sie nicht auf eine direkte Frage geantwortet, ich hätte mich gefragt, ob sie mit mir oder mit sich selbst spricht.
Dann richtet sie sich abrupt auf, schaut mich an und lächelt. Strahlend.
Ich mag Reese. Ehrlich. Aber sie bemüht sich so sehr. Zu sehr, finde ich. Jay nimmt alles natürlicher hin, und wenn ich mit ihm allein bin, ist es ganz einfach, zusammenzusitzen und Scherze zu machen. Oder auch, wenn wir zu dritt sind. Wenn ich mit Reese allein bin, ist es anstrengend.
»Das Abendessen ist in ungefähr zehn Minuten fertig«, sagt sie fröhlich. »Ich habe Lasagne gemacht.«
Ich grinse, und sie interpretiert es als Freude über die Lasagne – was verständlich ist. Ihre Lasagne ist super! Aber eigentlich lache ich darüber, dass sie sagt, sie habe sie gemacht . Denn meiner Meinung nach hat der Typ im Feinkostladen die Lasagne gemacht . Reese kann für sich nur in Anspruch nehmen, dass sie sie in den Ofen geschoben und die Eieruhr eingestellt hat.
Das ist vielleicht backen, aber es ist auf keinen Fall machen . Wenn Mama Lasagne machte, verbrachte sie Stunden damit, frischen Nudelteig auszuwellen, Tomaten zu pürieren und Oregano zu mahlen. Nichts kam aus der Tüte oder Dose oder vom Feinkostgeschäft; für Mama war Essen Kunst. Reese’ Lasagne ist anders – genau wie alles andere in meinem Leben. So anders, dass es mir manchmal nicht ganz real erscheint. Es gibt Tage, an denen sich mein Leben hier anfühlt, als sei ich in einem exotischen Ferienlager und werde nach ein paar Abenden bei Kerzenschein und Nächten unter meiner seidigen Daunendecke nach Hause fahren, und meine Eltern werden daheim im Mittelklasse-Michigan auf mich warten.
An anderen Tagen fühlt es sich so anders an, dass mir die Tatsache, mein altes Leben sei unwiederbringlich verloren, umso realer erscheint.
Und deprimierend.
Zum Glück liegen die meisten Tage irgendwo in der Mitte.
»Mein Lieblingsessen!«, platze ich schließlich heraus.
Reese spielt mit dem Saum ihrer aufgeknöpften Bluse, während sich ihre Gedanken beinahe sichtbar drehen. Sie überlegt, was sie jetzt noch sagen könnte.
Ich meide die angespannte Situation, indem ich aus dem Fenster auf den Piscataqua River schaue, und verschlucke mich fast vor Überraschung. Mein Herz schlägt sofort wieder mit Höchstgeschwindigkeit. »Weißt du was, Reese? Mir ist irgendwie warm. Ich gehe ein bisschen raus.«
Ich hoffe, ich klang überzeugend beiläufig, als ich mich an ihr vorbeiquetsche und es halb die Treppe hinunterschaffe, bevor sie reagieren kann. Mein Bein pocht, aber ich laufe trotzdem beinahe.
»In zehn Minuten ist das Essen fertig!«, ruft sie mir nach. »Du musst etwas essen!«
Aber ich höre sie kaum.
Ich platze zur Hintertür hinaus, mein Blick schweift suchend hin und her. Bitte lass mich nicht zu spät sein , flehe ich in Gedanken.
Doch ich bin es nicht.
Er ist noch da. Unten am Flussufer.
K apitel 7
E r scheint keine Notiz von mir zu nehmen, als ich mich ihm nähere, heftig blinzelnd im Versuch, mich davon zu überzeugen, dass ich ihn auch wirklich sehe. Dass er echt ist.
Wie immer ist da kein Flackern, kein Glühen. Nicht wie bei der Frau vor dem Immobilienbüro oder dem Dreieck an dem Haus. Einfach … er. Real und greifbar. Ich bin gleichzeitig erleichtert darüber und habe Angst davor.
Er trägt weder die Jacke noch den Hut, aber er hat sie auch nicht gerade durch Jeans und Polohemd ersetzt. Er trägt ein Leinenhemd, das er lose in eine Segeltuch-Kniehose gesteckt hat; er ist barfuß und hat die Zehen halb in dem grobkörnigen Sand vergraben. Ich schaue mich auf dem Boden um ihn um, sehe aber keine Schuhe. Doch wenn er verrückt genug ist, zwei Tage hintereinander ungebeten und unangekündigt zu meinem Haus zu kommen, läuft er vielleicht auch barfuß herum.
Im März.
Als ich ihn mit eingefrorenem Atem – schlägt mein Herz überhaupt noch? – ansehe, hebt er die Hand und streicht sich eine Strähne seines seidigen Haares hinters Ohr. Dann beugt er sich vor, das Leinenhemd spannt sich um seine Schultern, und hebt einen kleinen Stein auf. Ohne Eile schwingt er den Arm herum und lässt den Stein über die Wasseroberfläche des Flusses springen.
Die Stille ist gebrochen.
Eine heiße Fontäne von Zorn, Fragen, Wünschen und Wut kocht in meinem
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