Der Kuss der Russalka
sagte sie leise. Die Missbilligung in ihrem Tonfall war wie ein Messerschnitt. Marfa stand auf und ging in die Schlafkammer. Als sie wieder erschien, hielt sie ein älteres Hemd von Onkel Michael in der Hand, das sie Johannes nun zuwarf. »Zieh das an und lass dich von Michael nie dabei erwischen, dass du nachts herumziehst. Wir leben nicht mehr in Moskau in der Nemezkaja Sloboda!« Sie betonte den russischen Ausdruck für die Deutsche Vorstadt, als würde sie ihn daran erinnern wollen, dass er nun keine Freiheiten mehr hatte.
»Ich war nur an der Newa«, rechtfertigte er sich.
»Ist mir gleichgültig, wo du warst«, wies sie ihn zurecht. »Ich will nicht erleben, wie man dich erschlagen oder erstochen mit den Füßen voran in die Werkstatt trägt. Ich will nicht, dass du Ärger bekommst. Hörst du denn nicht, was die Bauern und Knechte tuscheln? Willst du als Mörder verdächtigt werden? Wir sind anständige Leute, vergiss das nicht.«
»Ich habe nichts getan«, erboste er sich. »Du kennst mich!«
»Eben«, bemerkte sie trocken. »Du bist ein gutmütiger Hund – und das da draußen sind Wölfe.«
Wie Recht sie hat, dachte Johannes bitter. Eine Sekunde lang war er in Versuchung, ihr zu erzählen, was er gesehen hatte, aber der Gedanke verschwand so schnell, wie er gekommen war. Sie brauchte nicht alles zu wissen, entschied er. »Marfa«, sagte er ernst. »Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber ich lasse mir nicht befehlen, wohin ich gehen darf und wohin nicht.« Nach diesen Worten atmete er tief durch. Noch nie hatte er ihr widersprochen. Fast rechnete er damit, für diese Unverschämtheit eine Ohrfeige einzustecken.
Mit zusammengekniffenen Lippen sah sie ihn an. Wieder einmal überraschte sie ihn. »Wie du meinst«, sagte sie. »Du hast den Schaden, nicht ich.« Ihre Stimme wurde leiser, als sie sich zu ihm über den Tisch beugte. »Aber denk wenigstens an deinen Onkel. Er hat in seinem Leben schon genug verloren. Ich will nicht, dass ihm noch ein Unglück das Herz bricht.«
Ihre Stimme bekam bei diesen Worten einen weichen Klang, den er noch nie bei ihr gehört hatte. Als er in ihr Gesicht schaute, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass die harsche Marfa ihren mürrischen alten Mann liebte. Diese Erkenntnis berührte ihn und machte ihn verlegen. Ihm war, als hätte er soeben ein Geheimnis entdeckt, das nicht für seine Augen bestimmt war. Schnell schaute er weg und entfaltete das grob gewebte Hemd, das seinem Onkel zu schmal geworden war. Es fühlte sich fremd an.
»Jetzt schläft er«, fuhr Marfa fort. »Aber nachts quälen ihn Albträume. Es soll nicht auch noch von deinem Blut träumen müssen.«
* * *
Mitja ließ sich den ganzen nächsten Tag nicht blicken, aber Johannes war dennoch nervös. Bisher war es ihm gelungen, seine Unruhe und seine Übermüdung zu verbergen, aber seinem Onkel fiel auf, wie unkonzentriert er arbeitete. Zweimal hatte er sich bereits auf die Finger geschlagen und selbst Iwan, den nichts aus der Ruhe brachte, sah ihn mehrmals verwundert an.
»Hast du den Veitstanz?«, fuhr ihn Onkel Michael an, als er zum dritten Mal einen Nagel schief einschlug. Verstohlen beobachtete Johannes den kräftigen alten Mann, der so sehr seinem Vater ähnelte und vom Charakter doch so anders war. Erstmals fielen ihm die tiefen Sorgenfalten auf Michaels Stirn richtig auf und die verhärteten Mundwinkel, denen man ansah, wie selten er lachte. Und auch Johannes verspürte keine große Lust, fröhlich zu sein. Die Bürde der Ungewissheit, die seit gestern noch schwerer auf seine Schultern drückte, machte ihm zu schaffen. Er musste herausfinden, wer dieser Junge war. Offensichtlich hatte er Verbindungen zu Mitja – Mitja, der Johannes seit Tagen beobachtete. Mehr denn je hatte Johannes das Gefühl, dass sich ein Henkersseil um seine Kehle zusammenzog, bereit ihm bei der kleinsten falschen Bewegung mit einem Ruck das Genick zu brechen.
Am Nachmittag kam eine neue Fuhre mit Holz an. Harzduft überlagerte für eine Weile den brackigen Geruch nach Erde und Schweiß. Den Pferden, die die Fuhre zogen, klebte der Schlamm an Brust und Beinen und sie schnaubten vor Erschöpfung. Mit Unbehagen erkannte Johannes, dass einer von Derejews Leuten den Zug begleitete. Es war ein Dragoner. Er trug keinen Mützenhelm wie die Grenadiere, sondern einen Dreimaster, unter dem eine helle, kurze Perücke hervorschaute, und war mit einem Säbel und einem Gewehr bewaffnet. Sein Kinn war glatt rasiert, allerdings trug
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