Der Kuss der Russalka
gesehen. Die gewaltigen Meeresriesen faszinierten ihn beinahe ebenso wie die Schiffe der Walfänger – holländische Fleuten mit bauchigen Rümpfen und hochgezogenen Bordwänden. Johannes stellte sich vor, wie die Wasserleichen unter dem Kiel eines solchen Schiffes trieben, an Riesenwalen und Tintenfischen vorbeischwebten, ewig staunend, ewig blind. Eines dieser Gesichter schien ihn in den Wellen anzublicken, aber es war wohl eine Täuschung des Sonnenlichtes, das auf den Wellen spielte. Johannes rieb sich die Augen. Das Glitzern war immer noch da und tief im Wasser leuchtete eine helle Fläche mit zwei dunklen Flecken wie Augen. Vor Schreck krampfte Johannes seine Finger in den Lederbeutel, den er festhielt. Der Schmerz in seinem Arm brachte ihn wieder zur Besinnung. Ein silbriger Fischleib strich an der Wasseroberfläche entlang, ein gewaltiger und erstaunlicherweise schuppiger Aalschwanz schlug auf das Wasser und breitete einen funkelnden Vorhang aus Wassertropfen über den Himmel. Die Fronarbeiter hörten auf zu beten und wurden starr vor Angst. Im nächsten Moment riefen die Kanalarbeiter durcheinander, trappelten über den Kahn und beugten sich über den Rand. Bedenklich neigte sich der Kahn.
»Zurück!«, befahl der Fährmann und fluchte. Zögernd nahmen die Arbeiter wieder ihre Plätze ein, aber sie reckten die Hälse und deuteten auf das Wasser. Scherzworte flogen hin und her, Johannes verstand genug Holländisch um herauszuhören, dass sie sich überlegten, wie viele Leute von so einem Ungeheuer satt werden könnten.
Hoch türmten sich die Erdwälle der Peter-Paul-Festung vor dem Boot auf, das nun am Newator anlegte. Die Festung war das eigentliche »Sankt Piter Burch«, ein Bollwerk, das Zar Peter nach seinem Namenspatron benannt hatte, dem heiligen Petrus, und das nun der neuen Stadt ihren Namen gab. Ehrfurchtsvoll schritt Johannes durch das Festungstor, das von Soldaten bewacht wurde. Er zeigte das Auftragsschreiben mit dem Handwerkssiegel vor und wurde durchgelassen. Von diesem Eingang aus ging es zum Kommandantenpier. Offiziere und Soldaten waren vor den großen Holzgebäuden zu sehen, die im Gegensatz zu den Werkstätten und Hütten am Südufer wie Paläste wirkten. Innerhalb der Festungswälle konnte man schon erahnen, wie die Anlage bald aussehen würde. An einigen Stellen wuchsen bereits solide Mauern in die Höhe. Steinmetze klopften das Baumaterial auf die richtige Größe zurecht, begradigten Kanten und meißelten Rillen in die Quader. Von fern glaubte Johannes inmitten von heftig debattierenden Baumeistern den Architekten Trezzini zu erkennen, aber er war so vertieft darin, seinen Untergebenen Anweisungen zu geben, dass er Johannes nicht bemerkte. In der Mitte der Festung ragte die hölzerne Kathedrale empor. Johannes schluckte seine Ehrfurcht hinunter, ging am Bootshaus und an der Münzschlägerei vorbei und machte dann einen Bogen zur Menschikow-Bastion, die in nordöstlicher Richtung lag. Erst vor zwei Jahren, im Jahr 1704, war hier die erste staatliche Apotheke eingerichtet worden. Im Augenblick diente das Haus auch als Quartier für die wenigen Wundärzte, die Zar Peter für die Werftarbeiter abgestellt hatte. Ohnehin machten die Russen keinen großen Unterschied zwischen Ärzten und Apothekern. Da so viele Ärzte Deutsche waren, sagten die Worte Deutscher und Arzt für viele das Gleiche aus.
Nun, auf Thomas Rosentrost, der in einem abgeteilten Teil der Apotheke seine Arbeitsräume hatte, trafen alle drei Begriffe zu. Er kam aus Mühlhausen, war Feldarzt und Knochenflicker gewesen, hatte in Leyden und Paris studiert und sich auch Apothekerwissen angeeignet. Er war »Okulist, Stein– und Bruchschneider«, einer der besten Chirurgen im ganzen Zarenreich. Dr. Thomas Rosentrost war niemand Geringerer als der Hofmedicus des Zaren. Streng genommen durfte er nur mit einer Genehmigung andere Patienten behandeln, aber für Thomas Rosentrost waren solche Verordnungen dafür da, dass man sie ebenso geschickt wie gefahrlos umging. Trotzdem würden die Behandlung und die Medikamente Onkel Michael einiges kosten.
Johannes grüßte einen blassen Apothekenhelfer, durchquerte den Raum, der mit Töpfen, Tiegeln und Standgläsern vollgestellt war, und betrat durch eine Seitentür Rosentrosts Reich. Ein polierter Tisch stand in der Mitte, zwei erstaunlich rohe Holzstühle daneben. Auf dem Tisch lagen neben einem Besteck für den Aderlass wild übereinander geworfene Papiere. Rosentrost erledigte für
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