Der Kuss der Russalka
war mein Gesicht, das du im Wasser gesehen hast.«
»Lüg nicht, es war ein Mädchen mit langen Haaren, das im Wasser lag! Es hatte weiße Hände und nicht solche … Schmutzpfoten wie du!«
Der Junge zuckte die Schultern. »Na, dann such sie doch«, erwiderte er lässig und deutete auf die Eiche.
Zögernd ging Johannes näher heran. Das Wasser war klar, das konnte er von hier aus erkennen. Die Fische mussten die Leiche weggezerrt haben oder eine Strömung hatte sie in die Tiefe gezogen. »Hör mal«, sagte er. »Ich mag ein deutscher Bastard sein, aber man würde mir glauben, und zwar mehr als dir, wenn ich erzähle, was ich im Wasser gesehen habe. Also, sag mir die Wahrheit! Wer ist das Mädchen?«
Der Junge trat einen Schritt zurück und verschränkte grinsend die Arme. »Ein Geist oder ein Traum, was sonst? Geh heim und erzähle, du hast ein Gespenst gesehen – die Bauern werden dir glauben, der Zar wird dir im besten Fall ein paar Batokken verpassen lassen. Du wirst ja wohl wissen, was er von Aberglauben hält.«
Mit einem Satz war Johannes bei ihm und packte ihn am Kragen. Diesmal wehrte der Junge sich nicht. »Halt mich nicht zum Narren!«, fauchte Johannes. »Der Zar würde mir zuhören – aber noch wichtiger ist, dass sich ein gewisser Oberst Derejew sehr für den Aufenthaltsort der Leiche interessieren würde.«
Endlich huschte Furcht über das Gesicht des Jungen. Heftig machte er sich los und sprang zurück. Johannes fühlte seine Abneigung wie einen kalten Nebel, der sich um ihn legte und ihm die Luft raubte. »Was auch immer du im Wasser gesehen hast«, meinte der Junge schließlich leise. »Wenn dir dein Leben lieb ist, dann schweigst du darüber.«
»Wer droht mir, du?« Johannes lachte. »Wie wäre es, wenn du mir einfach die Wahrheit sagst? Wer ist die Tote?«
Die dunklen Augen schienen zu glühen. »Was denkst du?«, sagte der Junge ohne eine Spur von Ironie.
Johannes wurde ernst. Die ganze Situation erschien ihm verrückt wie ein Traum und ebenso irreal. »Sie ist die Tote aus der Newa, die angeblich Natascha Neglowna Toraschkina heißt. Sie war in unserer Werkstatt aufgebahrt …«
Er hielt mitten im Satz inne. Die Spur wurde deutlicher, sie bekam Farben und Formen und nahm die Gestalt eines geheimnisvollen Gastes an. Beinahe spürte er wieder die Anwesenheit des Eindringlings, der ihm das Leichentuch über den Kopf geworfen hatte und dann durch den schmalen Spalt entwischt war. Mit offenem Mund starrte er den Jungen an.
»Du warst das in der Werkstatt«, stellte er fest. Der Junge schwieg. »Ihr wolltet die Leiche verschwinden lassen – warum?«
Ein spöttisches Lächeln glitt über das Gesicht des Jungen. Er klopfte sich den Schmutz von den Ärmeln, was ein vergebliches Unterfangen war. »Hör auf, nach einer Toten zu suchen.«
»Ich glaube dir kein Wort«, entgegnete Johannes. »Kein einziges. Wer bist du?«
»Geh heim«, sagte der Junge leise. »Und erzähle, was du willst.«
»Das werde ich tun. Und sie werden mir glauben.«
»Wie sehr du dich irrst«, sagte der Russe spöttisch und deutete an Johannes’ Schulter vorbei auf etwas, das hinter ihm war. »Sie werden Mitja glauben.«
Johannes fuhr herum. Etwa fünfzig Fuß von ihm entfernt stand der Gottesnarr und starrte ihn an. Als er sah, dass Johannes ihn beobachtete, stieß er einen erschreckten Laut aus und floh.
»Und Mitja wird nur zu gerne erzählen, dass du es warst, der die Leiche wieder in die Newa geworfen hat.«
Johannes fluchte. Mit einem Mal war er in eine gefährliche Sache verwickelt. Noch mehr als die Ungewissheit hasste er die Ohnmacht, die er nun verspürte.
»Also höre auf meinen Rat«, schloss der Junge düster. »Geh heim und vergiss deinen Ausflug hierher. Am besten vergiss auch mich.«
Er drehte sich um und ging an der Newa entlang davon. Johannes hielt ihn nicht auf. Sobald der Junge hinter der Biegung verschwunden war, ging Johannes mit weichen Knien zur Eiche zurück und spähte in die Tiefe. Nur das Spiegelbild seines eigenen Gesichts blickte ihn aus dem Wasser an.
* * *
Zu seinem Entsetzen erwartete ihn Marfa in der Kammer. Obwohl der Morgen noch auf sich warten ließ, war sie angekleidet und wärmte sich die Hände an einem Becher mit Brühe. Iwan schlief auf der Bank, aus der Kammer nebenan floss Onkel Michaels schwerer Atem. Johannes blieb an der Tür stehen und senkte den Kopf. Er konnte beinahe spüren, wie Marfas Blick zu dem Riss in seinem Hemd glitt.
»Setz dich, Johannes«,
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