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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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erträumt hatte – über das Tyrrhenische Meer nach Korsika vielleicht oder über das Adriatische Meer bis vor die Küsten des Osmanischen Reiches.
    Direkt vor ihm schreckte ein Vogel hoch und flog kreischend auf. Johannes schnappte nach Luft und lächelte. Bald würde der Tag die diffuse Helligkeit der Nacht vertreiben. Gegen den glänzenden Fluss und die Nebel hob sich der Ikonenbaum ab wie ein knorriges Ungeheuer. Unter seinen Ästen regte sich etwas, ein Zweig begann zu wippen. Vielleicht ein weiterer Vogel, der im Astwerk Zuflucht gesucht hatte. Dann ertönte ein Platschen auf der anderen Seite. Johannes fuhr herum. Flussratten, dachte er. Er beugte sich zu den Ästen und spähte in das Wasser. Eine Bewegung unter der Wasseroberfläche ließ ihn zusammenzucken. Ein schuppiger aalgleicher Körper schnitt für einen Augenblick die Oberfläche und verschwand wieder im Dunkel. Was für ein großer Fisch! Dann sah er etwas Helles im Wasser treiben. Wie die Ahnung eines Bildes erkannte er ein bleiches Gesicht, das unter der Oberfläche trieb, die Augen geöffnet, der Mund blutleer. Schwarzes Haar trieb wie Tang um die weißen Schultern. Unter der Wasseroberfläche schwebte eine Leiche! Ihre Arme sahen aus wie blasse Äste, an deren Enden fünfblättrige Wasserblüten wuchsen. Eine Hand war so nah unter der Oberfläche, dass es aussah, als würde sie nach Johannes greifen wollen. Er kannte diese Hand. Weiß wie ihr Körper war sie, mit Fingernägeln, so rund und transparent wie dünne Muschelschalen. Als hätte ein Schwall Eiswasser ihn aus einer Trunkenheit geholt, waren seine Gedanken plötzlich blitzklar. Hastig überschlug er, wie lange es her war, seit die Tote in der Werkstatt gelegen hatte. Es war unmöglich – sie hätte aufgeschwemmt und verzerrt aussehen müssen. Im Wasser jedoch wirkte sie unverändert, schwarze Augen schienen ihn anzustarren. Als ihr Körper sich bewegte, schrie Johannes auf und sprang zurück. Das Gesicht wurde noch unwirklicher, je tiefer es ruckartig in die Tiefe hinabgezogen wurde. Im nächsten Augenblick kam Johannes sich lächerlich vor. Seine Vernunft gewann die Oberhand. Etwas hatte an der Leiche gezogen, vielleicht, so dachte er mit einem Schaudern, das schuppige Ungetüm. Hatte der Mörder die Tote mit Absicht in der Newa versenkt, damit die Fische sie fraßen? Aber welcher Mörder wäre so dumm, einen Körper so nah am Ufer zu verstecken? Johannes überwand seinen Ekel und beugte sich wieder über das Wasser. Er konnte nicht zusehen, wie ein Aal oder was immer sich da gütlich tat. Nein, diesen Festschmaus würde er dem Ungeheuer verderben. Obwohl ihm Angst und Unbehagen die Kehle zuschnürten, stützte er sich an einem Ast ab, lehnte sich über das Wasser und hangelte nach der weißen Hand.
    Im nächsten Augenblick hörte er ein Knacken. Wasser spritzte ihm ins Gesicht, etwas fiel auf ihn herunter und riss ihn so heftig zurück, dass sein Kragen ihn würgte. Jetzt erst kam der Schmerz. Bevor er nach Luft schnappen konnte, traf ihn bereits ein weiterer Schlag gegen die Schulter, der ihn vom Ufer wegtaumeln ließ.
    »Verschwinde!«, zischte ihm jemand zu, ein dritter Hieb gegen seine Rippen folgte, den Johannes vor Überraschung einfach ohne Gegenwehr einsteckte. Dann wurde ihm endlich klar, dass er angegriffen wurde. Der Angreifer musste direkt über ihm im Baum gesessen haben. Johannes ballte die Hand zur Faust und schlug zu. Mit einem erstickten Laut ging sein Angreifer zu Boden, rappelte sich aber sofort wieder auf.
    »Was willst du?«, stieß Johannes hervor.
    »Von einem deutschen Bastard wie dir? Nur dass du verschwindest!«, blaffte der Fremde ihn an. Jetzt erst nahm Johannes das schmale Gesicht mit den lodernden dunklen Augen richtig wahr. Struppiges schwarzes Haar umrahmte eine hohe Stirn. Der Junge war nicht älter als Johannes, aber er schien die Ausländer nicht minder zu hassen als die meisten anderen Russen.
    »Du wirst mir nicht befehlen, wann ich zu verschwinden habe«, zischte Johannes.
    »Ich kann es dir auch einprügeln«, sagte der Fremde mit erstaunlicher Furchtlosigkeit. Johannes konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. »Leg dich nicht mit mir an, du Sperling!«
    Er machte einen Schritt auf das Ufer zu, aber der Russe sprang an ihm vorbei und stellte sich ihm in den Weg. Mit seinen geballten Fäusten und den glühenden Augen sah er aus wie ein zähnefletschender Straßenhund.
    »Geh aus dem Weg!«, drohte Johannes.
    »Schaff mich aus dem

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