Der Kuss der Russalka
er einen Schnurrbart ähnlich dem von Derejew. Gemeinsam mit den anderen sprang Johannes herbei und half das Holz abzuladen. Dabei wurde er das Gefühl nicht los, dass der Dragoner ihn düster betrachtete.
»Pass auf!«, brüllte sein Onkel einem Gehilfen zu. Mit einem Schnappen riss ein Riemen, Holz kam ins Rutschen, verkantete sich an den falschen Stellen. Ein Pferd scheute und zerrte am Geschirr. Eine Kante schabte schmerzhaft über Johannes’ Unterarm, ein Gewicht riss an seinem Arm. Stechender Schmerz durchzuckte seine Schulter. Gerade noch gelang es ihm, einen Satz zu machen und seine Beine in Sicherheit zu bringen, dann spritzte Schlamm auf. Mit einem mörderisch dumpfen Schlag kam der nur grob zurechtgehauene Baumstamm direkt vor seinen Füßen auf. Johannes’ gezerrter Arm pochte. Vorsichtig versuchte er ihn zu bewegen, aber ein Reißen ließ ihn zusammenzucken. Mit vor Schreck blassen Gesichtern starrten die Gehilfen ihn an. Nur im Gesicht des Dragoners glaubte er ein spöttisches Lächeln aufblitzen zu sehen.
»Geh rein zu Marfa!«, rief Onkel Michael ihm zu. »Seht nach, ob was gebrochen ist.« Der Dragoner grinste ihn nun offen an. Als Johannes wütend kehrtmachte und zum Haus ging, hörte er die gezischten Worte eines Leibeigenen: »Lass die Arbeit lieber einen Russen machen, dann geht nichts zu Bruch.« Empört drehte sich Johannes um. Sein Onkel hatte die Bemerkung nicht gehört. Dafür zeigten ihm zwei der Arbeiter ein hämisches Wolfslächeln. Zweifellos hatte Derejews Dragoner die Bemerkung vernommen, aber er machte keine Anstalten, dagegen vorzugehen. Ein kalter Schauer kroch über Johannes’ Genick. Schürten auch Zar Peters Soldaten heimlich den Hass gegen die Ausländer? Das unsichtbare Henkersseil zog sich noch ein wenig mehr zu.
Kurz darauf befand sich Johannes mit einem notdürftig verbundenen Arm auf dem Weg zu den Lastkähnen, die den ganzen Tag über vom Südufer aus zur Haseninsel übersetzten. In der Tasche hatte er eine Liste von Kräutern, die Marfa benötigte, um den Husten und das Fieber des kranken Gehilfen zu lindern. In jedem Gesicht, das ihm entgegenblickte, glaubte Johannes Feindseligkeit zu erkennen. Doch meist war es nur stumpfe Neugier, einen jungen blonden Zimmermann mit einem verbundenen Arm zu sehen.
Mehrere Ruderboote und ein großer Lastkahn legten gerade am Südufer an, als Johannes dort ankam. Eine Gruppe von Kanalbauern stand bereits an der Anlegestelle und wartete ebenfalls darauf, übergesetzt zu werden. Brücken fehlten zum größten Teil noch, sodass Johannes und sein Onkel sich oft mit Transportkähnen oder auch nur mit kleineren Ruderbooten zwischen den Inseln und Ufern bewegten. Johannes störte es nicht – im Gegenteil, er freute sich über jede Minute, die er auf dem Wasser verbringen konnte. Wenn er die Augen schloss und dem Knarzen von Tauen lauschte, stellte er sich vor, auf den Planken seiner Jacht zu stehen. Und heute war er besonders froh, sich von der Werkstatt entfernen zu können. Es war ein Glück, dass Doktor Rosentrost ein Freund von Onkel Michael war. Sein Quartier hatte er derzeit in der Apotheke in der Menschikow-Bastion aufgeschlagen.
Tief lag der Kahn im Wasser, nachdem alle darauf Platz gefunden hatten. Johannes machte es nichts aus, ganz an den Rand gedrängt zu werden, wo er das Gefühl hatte, unmittelbar auf dem Wasser zu schweben. Die Sonne war hervorgekommen, es war heiß und weniger schwül als während der vergangenen Regentage. Das Flusswasser verwandelte sich in einen glitzernden Teppich aus kristallgrünen Wellen, die gegen die Kahnwände schlugen. Das Geräusch schläferte Johannes ein. Auf gewisse Weise fühlte er sich getröstet und beruhigt. Tief atmete er durch und genoss das Gefühl, auf dem Wasser zu sein. Er blendete die Kanalbauer aus, die sich auf Holländisch unterhielten und laut lachten, und kümmerte sich nicht um die Leibeigenen, von denen manche das Wasser so sehr fürchteten, dass sie sich an die Heiligenbilder und Holzkreuze klammerten, die sie um den Hals trugen. Völlig in sich gekehrt starrte er stattdessen in die Tiefen der Newa. Irgendwo in diesem Wasser trieben die Körper von Menschen. Irgendwann würde der Fluss seine Beute an Land tragen und der Friedhof am Waldrand würde die Opfer des Wassers aufnehmen. Manche von ihnen würden nie gefunden werden – die Newa trug sie hinaus in den Finnischen Meerbusen und in die Ostsee.
Einmal hatte Johannes in einem Buch die Zeichnungen von Walfängern
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