Der Kuss der Russalka
Weg, wenn du kannst, Deutschenfresse!«, zischte der Junge.
Das war zu viel! »Drecksrusse!«, knurrte Johannes und stürzte sich auf ihn.
Wie eine Katze sprang der Junge ihn an. Im nächsten Moment rollten sie über den steinigen Boden. Irgendwo hinter sich glaubte Johannes ein Platschen zu hören, doch als er einen Blick auf das Ufer erhaschte, war dort nichts zu sehen. Diese Sekunde der Unaufmerksamkeit kostete ihn beinahe einen Zahn. Er schrie vor Wut auf, als die knochige Faust ihn am Mund traf, und schleuderte den Jungen von sich. Er sah, wie sein Gegner hart stürzte und aufkeuchte, aber schon einen Moment später kam er wieder taumelnd auf die Beine. Es war der Kampf eines Wolfes gegen einen Luchs. Johannes war viel stärker, seine Hiebe trafen härter, aber der Russe schien wendiger. Seine Hiebe prasselten so schnell und unvermutet auf Johannes ein, dass er Mühe hatte, die Oberhand zu behalten. Einmal stolperte er und ging zu Boden. Schon im nächsten Augenblick war der Junge über ihm. Eine Faust schoss auf sein Gesicht zu. Im Reflex zog Johannes das Knie an die Brust und trat mit voller Wucht zu. Mit Genugtuung sah er, wie sein Gegner durch die Luft flog und hart auf dem Boden aufkam. Blut rann ihm aus einer Platzwunde am Kopf, seine armselige lumpige Jacke, die er trug, klappte auf. Ein zerrissenes Hemd kam zum Vorschein und darunter Stoffstreifen, die wie ein Verband aussahen. Der Russe stöhnte und krümmte sich vor Schmerz, bis seine Knie fast sein Kinn berührten. Einen Augenblick blieb Johannes schwankend stehen, ungewiss, ob er weglaufen oder zu seinem Gegner gehen sollte. Schließlich atmete er tief durch und trat näher. Sein Knie und seine Schulter schmerzten, als hätte ihm jemand ein Eichenbrett dagegen geschlagen. »Was ist?«, fragte er grob. »Hab ich dich zu hart erwischt?«
Der Junge rang immer noch nach Luft, sein Gesicht war knallrot, aber er schüttelte trotzig den Kopf. »Gebrochene Rippe«, flüsterte er nur.
Johannes verstand – der Verband hielt die Rippe in ihrer Position – zumindest hatte er es bis zu Johannes’ Tritt getan. Das musste weitaus schlimmer schmerzen als ein Hieb mit einem Eichenbrett. Auf der Stelle verpufften seine Wut und seine Kampflust. Betroffen starrte er den Jungen an, der immer noch nach Luft schnappte. »Du prügelst dich wohl öfter?«, sagte er. »Lass mal sehen!«
Der Junge stieß einen Fluch aus, den Johannes nicht verstand, und fauchte ihn an: »Lass deine Finger bei dir oder ich breche sie dir.«
Besorgt betrachtete Johannes den Mund des Jungen, der vor Schmerzen verzerrt war, und stellte erleichtert fest, dass kein Blut zwischen den Lippen oder aus der Nase hervorquoll. Zumindest hatte sich die Rippe durch den Tritt offensichtlich nicht in die Lunge gebohrt.
»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte Johannes. »Du hast mich angegriffen – und wenn du das Maul nicht aufmachst, kann ich nicht wissen, dass du verletzt bist. Meinst du, ich prügle mich mit einem Verletzten?«
Der Junge schwieg und warf ihm nur einen hasserfüllten Blick zu.
»Ach stimmt, ich bin einer der ketzerischen Ausländer«, sagte Johannes bitter. »Uns traut ihr ja anscheinend alles zu, was?«
»Ihr uns etwa nicht?«, gab der Junge zurück. Mühsam kam er auf die Beine.
Beim Angriff war er Johannes viel größer erschienen, nun aber sah er, dass der Junge ihm nicht einmal bis zur Schulter reichte. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, sich auf den Kampf eingelassen zu haben. Als er an sich hinunterblickte, bemerkte er, dass auch sein Hemd einen Riss bekommen hatte und schmutzverschmiert war. »Also, was willst du von mir?«, wandte er sich wieder an den Fremden. »Oder wolltest du nur verhindern, dass ich das tote Mädchen da im Wasser sehe …«
»Davon weiß ich nichts«, sagte der Junge eine Spur zu schnell.
Johannes stutzte. Wie ein Hund, der eine Spur witterte, sah er plötzlich jedes Detail ganz klar, nahm jedes Geräusch, jede Bewegung mit größter Schärfe wahr. Der Junge wusste etwas! »Warum hast du dann versucht mich mit aller Gewalt vom Wasser wegzuprügeln?« Noch während er sprach, kam Johannes ein Verdacht. Misstrauisch musterte er die armselige Gestalt. »Du weißt, wer der Mörder ist, oder? Bist du es? Oder dein Vater? Dein Bruder?«
Zu seiner Überraschung lachte der Junge auf und spuckte voller Verachtung aus. »Da ist keine Tote«, erwiderte er und diesmal klang seine Stimme aufrichtig. »Ich saß über dir im Baum – es
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