Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
den Zaren die Korrespondenz mit dem Ausland, außerdem bestellte er Medikamente aus England und Holland sowie ätherische Öle aus Moskau. Johannes ging näher heran und entdeckte eine Liste von Pflanzen, die für den zukünftigen Apothekergarten in Sankt Petersburg benötigt wurden. Eine weitere Liste war mit dem Titel »Naturaliensammlung« überschrieben.
    Ein solides Regal, das Onkel Michael gezimmert hatte, füllte die ganze Wand aus. Johannes konnte nicht umhin, mit dem Blick eines Zimmermanns zu überprüfen, ob die Winkel richtig saßen und das Holz gerade war. Das Regal musste einer großen Belastung standhalten, denn bis unter die Decke stapelten sich Gefäße und Kisten. Ein ganzes Regal war für Glasbehälter mit getrockneten Kräutern und Heilpflanzen reserviert. Und ganz rechts, in einem schattigen Teil des Zimmers, entdeckte Johannes mit einem Schaudern mehrere große Gläser, in denen zusammengedrückte, faltige Ungeheuer in einer Flüssigkeit dümpelten. Das mussten einige Exemplare der Naturaliensammlung sein, die Thomas Rosentrost verwaltete und katalogisierte. Gerade wollte Johannes näher herangehen, als der Medicus das Zimmer betrat. Das heißt, er betrat niemals ein Zimmer, er brach in ein Zimmer ein – unvermittelt wie eine Naturgewalt. Absätze klackten über die Dielen, dann flog schon die Tür zum angrenzenden Zimmer auf. Die Zornesfalte auf Rosentrosts Stirn war noch tiefer geworden, seine schwarzen Augenbrauen bildeten einen seltsamen Kontrast zur weißen gelockten Allongeperücke, die der Arzt stets mit akkurater Würde trug. Wie immer war er auch heute in einen langen scharlachroten Rock gekleidet und trug ein weißes Plastron um den Hals – eine eng geschnürte Halsbinde.
    »Ah, der Brehmer!«, bellte er und grinste. »Setz dich, setz dich. Der Arm, was? Zieh das Hemd aus!«
    »Ich habe keine Verletzung«, widersprach Johannes.
    »Nicht?« Die schwarzen Brauen zuckten in die Höhe. »Umso besser. Komm her!«
    Gehorsam setzte sich Johannes auf einen der abgewetzten Stühle und hielt es aus, dass der Arzt seinen Arm bewegte, ihn streckte und die Muskeln abtastete. Dafür dass sie schon Knochen zersägt hatten und mit dem Trepanierbohrer Löcher in Schädeldecken machen konnten, waren die Hände des Arztes erstaunlich glatt und weich, beinahe wie die einer Frau. Es kam Johannes seltsam vor, sich von ihnen anfassen zu lassen. Als hätte der Arzt gespürt, dass Johannes sich den Schmerz verbiss, ertastete er plötzlich eine Stelle in der Nähe des Ellenbogens und drückte zu. Johannes stöhnte auf.
    »Aha«, bemerkte Rosentrost. »Ein Loch im Muskel -gerissen. In der nächsten Zeit wirst du mit dieser Hand keinen Hammer heben.«
    Johannes musste blass geworden sein, denn Rosentrost zückte ein scharf riechendes Fläschchen und hielt es ihm unter die Nase. »Wird schon wieder. Besser, als ein zertrümmerter Knochen. Ich schmiere dir ein Pflaster. Braucht Marfa noch etwas?«
    Johannes nickte und hielt ihm den Zettel hin, den der Arzt mit gerunzelter Stirn studierte. »Fieber«, murmelte er.
    Mit großen Schritten durchmaß er den Raum und suchte die Pulver aus den Regalen heraus. Jeder andere Arzt hatte einen ganzen Bienenschwarm von Dienern und Helfern um sich, Rosentrost dagegen bestand darauf, alles selbst zu machen. Johannes betrachtete das Chirurgenbesteck, das halb unter den Papieren verborgen lag – Zangen und Rippenheber konnte er erkennen, außerdem Brenneisen zum Stillen von Blutungen. Dann schweifte sein Blick wieder zu den eingelegten Tieren. Eines davon fesselte seine Aufmerksamkeit besonders – wenn er nicht gewusst hätte, dass es Drachen nicht gab, er hätte geschworen einen vor sich zu haben.
    »Wie geht es Michael?«, fragte der Arzt ohne sich umzuwenden.
    »Gut«, antwortete Johannes. »Wir haben viel Arbeit.«
    »Und neuerdings eine Leichenhalle für Nixen, wie ich höre?«
    Johannes zuckte zusammen. »Wer sagt das?«
    Rosentrost lachte. »Die abergläubischen Bauern, sollte man meinen. Aber gestern war ein Soldat hier, der geschworen hat Fische mit Menschengesichtern gesehen zu haben. Oder war es umgekehrt? Gerüchte sind schlimmer als die Pest – hat einer sie, springt sie sofort zum Nächsten.«
    »Es war ein ertrunkenes Mädchen«, sagte Johannes leise.
    Der Arzt fuhr herum. Seine flinken Augen blitzten belustigt auf. »Natürlich! Was sonst?« Sorgfältig maß er zwei bauchige Holzlöffel eines grauen Pulvers ab und füllte es in eine Dose aus Buchenholz.

Weitere Kostenlose Bücher