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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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zuckte die mächtigen Schultern und deutete nach Osten. »Irgendwo da.«
    »Und wie heißt er?«
    »Frag ihn selbst – ich kaufe Fisch bei ihm, sonst nichts.«
    »Du weißt nicht, wer er ist?«
    »Nein, woher?«
    Johannes war nicht sicher, ob der Mann die Wahrheit sagte, aber er gab sich fürs Erste mit der Auskunft zufrieden. Im Osten also – das klang logisch, in Richtung Osten war der Fischer nach ihrem Zusammentreffen davongegangen. Also gehörte er nicht in die Stadt. Er spürte einen Blick und wandte den Kopf. Erwartet hatte er, irgendwo die flackernden Augen des Gottesnarren zu sehen, die aus der Menge der stumpfen Gesichter herausstachen, stattdessen sah er Derejew. Der Oberst beobachtete ihn mit dem lauernden Blick einer Katze. Länger als nötig sah er Johannes in die Augen, bis der Blick zu einer deutlichen Drohung wurde, dann trieb er sein Pferd an und galoppierte so dicht an Johannes vorbei, dass dieser sich nur mit einem raschen Satz in Sicherheit bringen konnte. Um ihn herum lachten einige der Arbeiter auf. Plötzlich konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ganz alleine inmitten einer Meute gegen ihn verschworener Angreifer stand. Aber gehörte Derejew zu ihnen? Mit klopfendem Herzen und düsterer Miene beeilte er sich, seinen Weg zu den Bauplätzen fortzusetzen.
    * * *
    Mit etwas Mühe gelang es ihm, in der Nacht aus dem Haus zu kommen. Aus Onkel Michaels Kammer drang ersticktes Gemurmel. Johannes wusste, dass sein Onkel wieder Albträume hatte. Wie ein Nebelstreif glitt er an der Hauswand entlang, duckte sich unter dem Fenster und schlug den Weg zur Newa ein. Die Verletzung an seinem Arm hatte zu heilen begonnen, aber prügeln würde er sich heute nicht können. Unruhig sah er sich um und stellte erleichtert fest, dass Mitja nicht in der Nähe war. Heute Nacht war er frei!
    Bald war er so weit gewandert, dass die letzten Baracken ihm nur noch wie eine ferne Erinnerung erschienen. Waldland erstreckte sich rechts von ihm, aus sumpfigem Boden ragten Erdinseln, auf denen Zwergweiden und vom Wind zerzauste Birken wuchsen. Längst hatte er die Newabiegung erreicht. Noch etwa zwei Meilen, dann würde er auf der anderen Seite die Ruine der schwedischen Festung sehen. Doch eine Fischersiedlung oder etwas Ähnliches entdeckte er nicht. Aufmerksam beobachtete er im Gehen das gegenüberliegende Ufer, aber auch dort war nur Ödnis unter einem hellen Himmel. Ein ovaler Mond stand am Firmament und tauchte die Nebel auf dem Wasser in geisterhaftes Licht. Eine Welle spritzte auf, irgendwo in der Mitte des Flusses. Es mochte ein Fisch sein, der sich seine vielbeinige Mahlzeit von der Wasseroberfläche pflückte. Ein Strudel glättete sich, dann war der Fluss wieder glänzender Seidenstoff. Johannes dachte an die Monstren in der Apotheke und konnte ein Frösteln nicht unterdrücken. In den struppigen Büschen knackte es, als würde jemand oder etwas ihm hinterherschleichen, und immer wenn er den Blick abwandte, hörte er wieder ein Platschen. Noch nie war ihm eine Landschaft so gespenstisch vorgekommen. Im Zwielicht der weißen Nächte erlaubte er seinen Gedanken zu schweifen und sich für einen Augenblick auszumalen, dass es doch so etwas wie eine Russalka gab. Kein Monstrum, sondern eine richtige Nixe mit magischen Kräften, wie sie in den Seefahrerliedern besungen wurde. Die Tote hatte ausgesehen wie eine der Galionsfiguren, die an so manchem Schiffsbug ihren Körper der Sonne entgegenreckten.
    Eine größere Weide kam in Sicht. Als Johannes näher herantrat, erkannte er, dass ihre Äste dicht über dem Wasserspiegel einen Hohlraum bildeten, der wie die Kuppel einer kleinen Kathedrale anmutete. Einige der Äste hingen so tief, dass sie das Wasser berührten. Zwischen ihnen ragte ein Stück Holz hervor. Es sah aus wie der Bug eines Ruderbootes. Johannes begann zu rennen. Eine Eule erhob sich aus den Zweigen und glitt mit lautlosem Flügelschlag davon. Johannes verschwendete keinen Gedanken mehr an die Nebel und watete ins Wasser. Mit einem Klacken stießen die Zweige aneinander, als er sie wie einen Vorhang beiseite schob. Da lag das Ruderboot – mehrfach geflickt war es, trotzdem schwappte im undichten Bootsrumpf eine brackige Lache. Was für ein erbärmliches Boot, dachte Johannes. Ich würde mich nicht einmal trauen eine Pfütze damit zu überqueren. Vorsichtig zog er es aus seinem Weidenversteck hervor und betrachtete es. Auch wenn es eher einem Wrack glich, wurde es offenbar noch benutzt. Die

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