Der Kuss der Russalka
Peter würde sie auf jeden Fall ausstopfen und ihre Organe einzeln präparieren lassen.«
Johannes hatte den Anblick der Tiere ertragen und das Stechen in seinem Arm. Bei der Vorstellung eines ausgestopften Wesens mit menschlichem Gesicht allerdings drohte sich ihm der Magen umzudrehen. Er dachte an die Gestalt, die er im Wasser gesehen hatte. Und zum ersten Mal hatte er eine Ahnung, dass seine Welt nicht alles war, was er kannte. Nun bekam sein Erlebnis an der Newa einen Sinn. Das Mädchen war solch ein Monstrum mit zusammengewachsenen Beinen gewesen – vielleicht lebte es sogar am Wasser. Nicht umsonst hatte man sie mit dem Tuch abgedeckt. Vermutlich hatte Oberst Derejew die vermeintliche Nixe beiseite schaffen lassen, um die Belohnung zu kassieren. Jemand anders allerdings hatte ihren Leichnam gestohlen. Vielleicht war der Junge, den Johannes am Newaufer gesehen hatte, ihr Bruder oder sonst ein Verwandter. Unwillkürlich bewunderte ihn Johannes für seinen Mut, die Todesstrafe zu riskieren. Möglicherweise, so kam ihm ein neuer Gedanke, war sie auch gar nicht tot, sondern nur scheintot gewesen. Hin und wieder kam es vor, dass ein Totgeglaubter wieder zum Leben erwachte. Und eine so tiefe und große Wunde an der Schulter wäre eine logische Erklärung für eine sehr tiefe Bewusstlosigkeit. In diesem Augenblick fasste Johannes einen Entschluss. Er würde Marfa nicht gefallen.
* * *
Onkel Michael war alles andere als erfreut, dass Johannes nicht mit anfassen konnte. Zwar machte sich Johannes ohne zu murren daran, Holzstücke abzuschleifen, Bretter zu tragen und Werkzeuge zu reparieren, aber eine große Hilfe war er als einhändige Arbeitskraft nicht. Das mit Salbe bestrichene Pflaster, das ihm Thomas Rosentrost umgebunden hatte, brannte auf der Haut wie Feuer, bald allerdings breitete sich eine wohltuende Wärme in seinem Arm aus. In den nächsten Tagen beobachtete Johannes seine Umgebung noch genauer als bisher. Und es kam ihm vor, als wäre er vorher mit geschlossenen Augen durch Sankt Petersburg gegangen. Trotz Derejews Warnung waren die Gerüchte nie verstummt – im Gegenteil, sie schienen lauter zu werden, als würde sie jemand gezielt schüren. Selbst Johannes bekam hin und wieder einen Zipfel der abenteuerlichen Geschichten zu fassen, die um die Häuserecken flatterten. Hartnäckig hielt sich der Verdacht, dass Michael Brehm den Mörder des Mädchens kannte und ihm geholfen hatte die Leiche verschwinden zu lassen. Selbst unter den Bojaren, die Zar Peter unterstanden, kursierten derartige Parolen. Darüber hinaus hörte Johannes hier und da ein getuscheltes »Russalka«. Als am Nordufer der Newa zwei Arbeiter ertranken, schwor eine Bauersfrau gesehen zu haben, wie ein Fischmensch die Männer ins Wasser gezogen habe. Für diese Aussage, die er »Lüge« nannte, ließ Derejew die Frau öffentlich durchprügeln. Johannes schauderte vor der Entschlossenheit des Obersts, die Geschichten zum Verstummen zu bringen. Handelte er im Auftrag des Zaren? Hasste der Zar den Aberglauben so sehr, dass er Derejew beauftragt hatte ihn aus den Menschen herauszuprügeln? Das Schicksal der Bäuerin war ihm eine Warnung und er beschloss seine Suche nach dem geheimnisvollen Jungen aufzuschieben, bis sich der Tumult gelegt hätte. Einmal jedoch, als er in Richtung der Admiralität ging, entdeckte er in der Menge einen dunklen Haarschopf und ein schmales Gesicht. Der Junge trug einen Korb mit Fischen und steckte für einen davon ein paar Münzen ein. Unauffällig schob sich Johannes näher heran und folgte dem Jungen. Das war nicht einfach, denn er bewegte sich flink durch die Menge, nutzte jede Lücke und entzog sich schon bald Johannes’ Blick. Kurz wog er ab, ob er seiner Angst oder seiner Neugier folgen sollte, dann machte Johannes entschlossen kehrt und ging mit großen Schritten zu dem Mann, der dem Jungen ein paar Fische abgekauft hatte. Der Mann hatte ein von Pockennarben verwüstetes Gesicht, sah aber recht gutmütig aus.
»He, du!«, sagte Johannes zu ihm. »Der Junge, dem du gerade die Fische abgekauft hast – wer ist das?«
Der Mann runzelte die Stirn und musterte Johannes. Er schien zu überlegen, ob er dem großen Zimmermann Rede und Antwort stehen sollte, doch als Johannes eine Kopeke zückte und sie ihm in die Hand drückte, breitete sich ein Grinsen über das Gesicht. »Ein Fischer«, sagte er. »Kommt alle paar Tage hier zum Platz und verkauft seinen Fang.«
»Wo lebt er?«, fragte Johannes.
Der Mann
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