Der Kuss der Russalka
»Marfa«, sagte er sanft. »Bitte erzähl mir, was los ist! Hat es etwas mit dem Leibeigenen zu tun?«
Heftig schüttelte sie den Kopf. »Nein … ich weiß nicht. Sein Besitzer wird verständigt. Es ist nicht unsere Sache. Nein … ich habe nur etwas gesehen.«
»Was, Marfa?«
Heute waren ihre Augen schmelzendes, brüchiges Eis, Marfas Härte rann davon und ließ eine verängstigte Frau zurück. Johannes erschrak darüber, wie sehr ihn ihre Schwäche verunsicherte.
»Eine Katze«, sagte sie tonlos. »Bei Thomas Rosentrost. Ich wollte neue Salbe holen für Michaels Rücken – und dann hat Thomas mir die Katze gezeigt …«Sie holte Luft und Johannes fragte nicht weiter, sondern ließ ihr Zeit, ihre Worte zu finden. »Die Zunge hing ihr aus dem Maul. Thomas sagte, sie habe vor seiner Tür gelegen.«
»Na und? Einem Arzt, der Tiere präpariert, bringen Leute dauernd tote Tiere. Vielleicht ist sie vor seiner Tür verendet.«
Heftig schüttelte Marfa den Kopf. »Die Katze wurde ertränkt. Bei uns hing auch eine … vor einigen Tagen. Ich habe sie abgehängt und weggebracht.«
»Bei uns? Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich wollte nicht, dass Michael es weiß. Ich hoffte, es wäre nur ein grausamer Scherz.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. »Auch diese Katze hat jemand ertränkt. Und dann aufgehängt. An einem Nagel – bei uns an der Tür. Ich wachte nachts auf, weil ich ein Klopfen hörte. Du … warst nicht auf deinem Lager. Ich ging vor die Tür, aber alles, was ich fand, war die Katze. Weißt du, was das bedeutet?«
Johannes dachte angestrengt nach. Es kam ihm bekannt vor; in Moskau hatte er Malereien gesehen, die unter strengster Geheimhaltung von Hand zu Hand gingen. Sie zeigten einen Kater – einen Kater mit einem langen Schnurrbart. Plötzlich wurde ihm kalt. »Der Zar? Leute, die ihn verhöhnen, nennen ihn einen deutschen Kater. Weil er einen Schnurrbart trägt. Meinst du … jemand droht dem Zaren?«
»Wenn nicht dem Zaren, dann uns«, sagte Marfa. »Es war eine Drohung. Ich habe lange mit Thomas gesprochen. Immer wieder tauchen die Katzen auf. Johannes, du weißt, dass es in der Stadt mehr goldene Kälber als Katzen gibt -jemand muss sie von irgendwoher herbeischaffen.«
Schaudernd dachte Johannes an den Leibeigenen, der ihm gestern gedroht hatte. Also hatte er doch von einer Verschwörung gewusst. Plötzlich fühlte er sich nackt und schutzlos. »Wir müssen es melden. Der Zar wird nicht zulassen, dass jemand gegen ihn ein Komplott schmiedet.«
»Oh, ich weiß«, sagte sie bitter. »Glaub mir, er wird keinen Stein auf dem anderen lassen, wenn er das erfährt.« Plötzlich sah sie ihn irritiert an. Im nächsten Augenblick griff sie nach seinem Arm. »Johannes«, drängte sie. »Sag mir, wo du nachts bist. Du hasst diese Stadt, ich weiß es. Aber du würdest dich nicht überreden lassen, etwas gegen den Zaren zu unternehmen?«
»Marfa!« Grob schüttelte er ihre Hand ab.
»Entschuldige. Ich … sehe überall Gespenster. Aber ich muss wissen, wo du bist.«
»Am Newaufer«, antwortete er.
»Allein?«
»Nun, manchmal ist ein Fischer dort. Er … ich habe ihm geholfen sein Boot zu reparieren.« Mehr Wahrheit konnte sie nicht von ihm verlangen.
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Und glaubst du, er ist ein Freund?«
Wie immer war es Marfa gelungen, alle geschickt platzierten Umgehungen einfach zu überrennen. »Ich … denke schon«, gab er schließlich zögernd zu.
Bitter schüttelte sie den Kopf. »Du hast es immer noch nicht gelernt, Johannes! Hier hast du keine Freunde. Allenfalls jemanden, der vorgibt dein Freund zu sein, um dich in eine Verschwörung hineinzuziehen.«
Wütend sprang er auf. »Ich hätte dir nichts erzählen sollen.«
Sie stand auf und strich sich die Ärmel glatt. Brüsk wandte sie sich von ihm ab und holte aus ihrer Ledertasche einen schweren Salbentiegel hervor. »Geh arbeiten. Und morgen früh wirst du zu Oberst Derejew gehen und ihm Bericht über die Katzen erstatten.«
* * *
Johannes konnte sich kaum daran erinnern, wie er den Arbeitstag hinter sich gebracht hatte. Die Stimmung war seltsam, noch seltsamer wurde es, als Mitja auftauchte und sich mit bedrücktem Gesicht auf einen Holzstapel setzte. Er beachtete Johannes gar nicht, sondern sang immer und immer wieder das gleiche Lied, bis Johannes das Gefühl hatte, ebenfalls wahnsinnig zu werden. Noch spät in der Nacht hörte man Mitjas Summen, das der Wind zu den Fenstern trug und wie ein
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