Der Kuss der Russalka
»Was wir sehen, bedeutet nichts. Gar nichts! Erinnerst du dich? Du hast eine Tote erwartet und eine Tote gesehen. Für die Arbeiter da drüben bin ich ein Nebelschweif.«
»Die Bauern haben die Russalnaja-Zeremonie abgehalten, um dich in den Fluss zu bannen«, bemerkte er, um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen.
Das weiße Mädchen blieb stehen. Der schwarzgrüne Schimmer ihres Haars verlockte ihn, die Hand danach auszustrecken. In diesem Moment überfiel ihn die Sehnsucht, brannte sich in seine Brust wie das Messer eines Wegelagerers. An jedem anderen Tag hätte er gedacht, es sei die Sehnsucht nach Christine, nun aber schämte sich ein Teil von ihm zuzugeben, dass es einfach die Sehnsucht war, diese Frau hier zu umarmen. Nicht Christine, nein, diese Fremde, deren Lächeln wie Honig war. Ein anderer Teil seines Verstands ließ ihn zögern. Erst jetzt bemerkte Johannes, dass kein Tier in der Nähe war. Nicht einmal ein Blatt raschelte.
»Diese albernen Zeremonien werden uns niemals davon abhalten, dorthin zu gehen, wo wir wollen«, sagte sie.
Sie war so weit herangekommen, dass Johannes den schwachen Tanggeruch ihrer Haare wahrnahm. Die klare Schönheit ihres Gesichtes hielt ihn gefangen. »Wir dürfen nicht sein«, flüsterte sie. Die Melodie ihrer Stimme war eine schmeichelnde Welle, die seine Bedenken einfach davontrug. Dennoch ließ ein letzter Zweifel ihn zögern. Etwas wie Mordlust irrlichterte in ihren schwarzen Augen. »Sieh sie dir an«, erwiderte das weiße Mädchen und streckte die rechte Schulter nach vorne, auf der sich eine Narbe abzeichnete. »Diese Wunde hat deine Stadt mir geschlagen. Ich wurde nur verwundet, andere werden zerstückelt durch die Spitzen eurer Pfähle oder sterben durch eure Waffen. Der Grund der Newa gleicht einem Schlachtfeld, Eisen tötet uns.«
Ihr böses Lachen rieselte über seine Haut und bewirkte, dass sich jedes Härchen in seinem Nacken aufstellte. Ihm schien, als würde Ärger ihre Augen noch dunkler färben, mit einem Mal konnte er sich vorstellen, wie der geschwungene Mund, der an den Bogen zweier Schwalbenflügel erinnerte, Fische fing und zerfetzte. Und nicht nur Fische.
Er fühlte sich benommen wie im Fieber, ein Teil seines Verstandes sagte ihm, dass er verloren war, aber zu seiner Überraschung zischte das Mädchen leise und trat einen Schritt zurück. Die Betäubung fiel von ihm ab wie ein zu schwerer Mantel. Er blinzelte. »Weißt du, was Zar Peter mit dir tun wird, wenn er dich findet?«
Schlagartig wurde sie ernst. »Kennst du ihn – den Zaren?«
»Manchmal bin ich ihm begegnet – in Moskau, wenn er in die Vorstadt kam. Und von weitem sehe ich ihn oft, wenn er bei der Werft ist.«
»Wer ist er?«
»Na, der Großherr und Großfürst, Selbstherrscher von Groß-, Weiß– und Kleinrussland!«
»Das meine ich nicht. Ich will wissen, was für ein Mensch er ist.«
Johannes runzelte die Stirn und suchte nach Worten. Noch nie hatte ihn jemand nach einer solchen Einschätzung gefragt.
»Nun«, meinte er schließlich. »Er ist sehr wissbegierig -und er ist nicht nur der Zar, sondern auch Drechsler und Schiffszimmermann, Feuerwerker und Kupferstecher. Sogar Zähne ziehen hat er gelernt.« Er räusperte sich. »Er ist ein sehr eifriger Zahnarzt, und alle, die in seiner Nähe sind, versuchen es zu verbergen, wenn sie Zahnschmerzen haben, aus Angst, dass er ihnen den Zahn sofort herausbricht.«
»Also ist er nicht sehr rücksichtsvoll.«
»Aufbrausend ist er – so wie viele Herrscher. Vor ihm darf man keine Schwäche zeigen.«
»Was heißt das?«
»Nun, einmal zum Beispiel war der Bojar Golowin bei ihm zu Gast. Er lehnte einen Salat ab, weil er keinen Essig verträgt. Da ließ Zar Peter ihn festhalten und stopfte ihm Essigsalat in die Nase, bis er Nasenbluten bekam. Der Zar ist groß und ungeduldig. Er ist grausam, aber auch sehr klug.«
»Ist es klug von ihm, diese Stadt zu bauen?«, spottete sie.
»Ihr werdet es nicht verhindern«, antwortete er. »Wie viele gibt es von euch – fünfzig? Hundert?«
»Ein Schwarm hat keine Zahl«, sagte sie leise. »Früher waren wir so viele mehr, aber wir sterben. Eure Gegenwart vergiftet uns. Wenn wir uns in diesem Winter in den Newaschlamm legen, um bis zur Schneeschmelze zu schlafen, werden wir nicht mehr erwachen.«
»Jewgenij sagte mir, ihr könnt das Newadelta nicht verlassen.«
Sie seufzte. »Wie gerne würden wir fliehen. Es wird Zeit, dass wir in die Tiefe zurückkehren. Ins Herz der See zu
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