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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Fischschwanz zu sehen. »Er ist der Einzige, mit dem man vernünftig reden kann!«, erwiderte sie in tiefem Ernst. »Mitja und ich teilen unsere Träume.«
    »Du verstehst, was er sagt?«
    »Wie kann man Mitja nicht verstehen?«
    »Nun, er ist verrückt!«
    Erstaunt sah sie ihn an. »Er ist der Vernünftigste von allen! Er weiß lediglich nicht, was Traum und was Wirklichkeit ist.«
    Dazu fiel Johannes nichts ein. Er blickte sich um und betrachtete die Gestalt in dem nassen Soldatenmantel, die sich stapfend immer weiter von ihnen entfernte. »Was wollte er von dir?«, fragte er die Russalka.
    Sie seufzte. »Ins Wasser möchte er kommen. Aber wenn ich ihn mitnehme, ist er nicht mehr Mitja.«
    »Verwandelt er sich in einen von euch?«
    Ihr Lachen war spöttisch. »Nein, nur in einen Leichnam«, erwiderte sie trocken. »Seine Seele flüsterte im Wasser und ich könnte mit ihm sprechen, aber er würde nie wieder Gras sehen oder den Himmel, nie wieder würde er den Wald sehen, den er so liebt.«
    Mitja liebt also den Wald, dachte Johannes staunend. Und am allermeisten scheint er die Russalka zu lieben.
    »Wenn du Jewgenij suchst – er ist nicht hier«, fuhr die Russalka fort. »Er hat mir gesagt, dass du mich für ein Monster hältst.« Leise ließ sie sich in die Tiefe sinken. Mit einer Schlängelbewegung pflügte ein glitzernder Aalleib durch das Wasser und schlug wie ein zappelnder Fisch nach Johannes’ Fuß. Die Nixe warf sich herum und tauchte ab – Zeit genug für Johannes, ihren Rücken zu bewundern. Eine wellenförmige Flosse teilte ihn, die auf Hüfthöhe in den Aalleib überging. Silberschuppen glänzten auf und verschwanden. Johannes erahnte unter den Wellen ein ausdrucksloses Fischgesicht mit kräftigen Kiefern und gefährlich aussehenden Zähnen. Lauernd sah ihn der Raubfisch an. Johannes stolperte ein paar Schritte zurück. Das bedrohliche Wesen durchstieß die Oberfläche und vor ihm stand wieder die Russalka im Wasser. Plötzlich brach sie in ein Lachen aus, das wie eine übermütige Welle über ihn hinwegschwappte. »Du solltest dich sehen, was für ein Gesicht du machst.«
    »Hör auf«, sagte Johannes barsch. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass diese Nixe bis auf den Grund seiner Gedanken sehen konnte.
    »Wo willst du hin?«, rief sie.
    »Du … du warst ein Raubfisch. Und Jewgenij sagte …« Er kam sich töricht vor.
    Die Russalka lächelte katzengleich. Ihre Arme lagen wie bleiche Adern unter der glänzenden Haut des Flusses. »Ich bin Fisch, Fleisch, Teufelswerk oder Engelsgesicht. Blut kann köstlich sein.« Sein schockiertes Gesicht ließ ihr Lächeln noch breiter werden. Er war sich nicht sicher, ob sie scherzte oder die Wahrheit sprach. Sein Schaudern sagte ihm, dass die Wasserfrau etwas viel Älteres und Gefährlicheres war, als sich sein Zimmermannsschädel je vorstellen konnte.
    »Aber du bist … Jewgenijs Freund, und das genügt mir, um dir niemals etwa zuleide zu tun.« Gegen seinen Willen musste Johannes sich eingestehen, wie sehr es ihn freute, dass Jewgenij ihn als Freund bezeichnete. »Du machst dir gerne Bilder, Johannes, nicht wahr?«
    »Ich glaube an das, was ich sehe. Zumindest war es bisher so.«
    Sie beobachtete, wie er sich verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, und bewegte die Arme im Wasser. Es sah aus, als würde sich ein träger Fisch mit den Flossen im Gleichgewicht halten. Die Wasserströmung spielte mit dem langen Haar, trieb es in anmutigen Wellen gegen die Haut.
    Johannes wurde sich bewusst, dass er sie anstarrte. Offensichtlich verstand sie seinen Blick als Einladung, denn sie erhob sich und watete mit wenigen Schritten ans Ufer. Der Aalschwanz war verschwunden, stattdessen kamen zwei lange Beine zum Vorschein. Wasser umhüllte die Russalka wie ein glänzender Mantel, als sie ans Ufer kletterte und sich aufrichtete. Johannes blinzelte irritiert, wollte wegschauen, konnte aber den Blick nicht abwenden. Er hatte nackte Frauen gesehen – nicht weit von Moskau entfernt badeten die Leute im Flüsschen Jausa, selbst die russischen Mädchen schämten sich nicht, sich dabei auszuziehen. Aber dieses Mädchen hier war anders. Im Licht der weißen Nacht leuchtete ihr Körper wie poliertes Elfenbein. Sie hatte den Blick eines Raubtiers, das sich mit geschmeidigen Schritten seinem Opfer nähert.
    »Bist du verrückt?«, rief er. »Man kann dich sehen!«
    Mit einer neckischen Geste strich sie sich das Haar über die Schulter, sodass es ihren Körper verbarg.

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