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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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in ihm auf, als er sich an den Leibeigenen erinnerte. Mit plötzlicher Klarheit wusste er, was mit dem Mann geschehen war. Nun, seinen Leichnam würde niemand finden. Konzentriert starrte er auf den Tisch und betrachtete Derejews Brief, der immer noch halb unter der Karte lag. Es war schwer, die kyrillischen Buchstaben zu lesen, zumal sie auf dem Kopf standen. Oberhalb des Namens war der Ort eingetragen, aus dem der Brief kam. Jesengorod. Die Stadt, aus der auch der Leibeigene stammte. Der Name des Absenders war kleiner geschrieben. »Karpakow«, entzifferte er schließlich. Er kam nicht mehr dazu, den Vornamen zu entschlüsseln.
    »Wir untersuchen die Sache«, meinte Derejew und legte Marfas Brief wieder hin. »Sage deinem Onkel und deiner Tante, sie sollen weiterhin Schweigen bewahren. Es ist gut, dass ihr euch an mich gewandt habt, statt diese Sache mit den Katzen unter das Volk zu streuen. Ich will keine Gerüchte.«
    Johannes nickte. Nichts anmerken lassen. Nicht zu freundlich sein. »Danke«, brachte er hervor und verneigte sich leicht. Oberst Derejew sah ihn noch einmal prüfend an und entließ ihn dann mit einem knappen Nicken. Johannes konnte sich nicht daran erinnern, wie er aus dem Zimmer gekommen war. Alles, was ihm noch im Gedächtnis haftete, waren seine Schritte, die auf den Dielen dröhnten. Jeder Soldat schien ihn anzustarren. Erst am Newator blieb er stehen und holte tief Luft. Obwohl sie klar und frisch war, hatte er das Gefühl zu ersticken. Derejew und die Verschwörer. Er überlegte, ob er seinen Onkel ins Vertrauen ziehen sollte, und entschied sich dagegen. Er hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte, wurde ihm klar. Niemanden außer … Jewgenij. Ein neuer Schreck durchfuhr ihn: Ob Derejew ihn beobachten ließ und von seinen Ausflügen ans Newaufer wusste? Er musste Jewgenij warnen!
    »He, willst du mit, oder was?« Er zuckte zusammen und bemerkte, dass der Lastkahn gerade dabei war, abzulegen. Über einen Graben aus grünem Wasser grinste der Fuhrmann ihn verächtlich an. Ohne zu antworten nahm Johannes Anlauf und sprang auf das glitschige Deck.
    * * *
    In der Nacht träumte er von der wunderschönen Jelena und dem Häuschen auf Hühnerbeinen. Katzenschädel staken auf den Pfosten. Jelena lächelte. Sie hatte das Gesicht der Russalka und aus ihrer Schulter ragte ein Holzpflock. Wieder hatte er das Gefühl, in einer Falle zu sitzen und zu ersticken. Am liebsten hätte er sich sofort zu Jewgenij aufgemacht. Beruhige dich, befahl er sich und zwinkerte in das Morgenlicht. Iwan hatte sich bereits aufgesetzt und strich sich die Haare glatt. Er sah müde aus und so alt, dass Johannes sich unwillkürlich fragte, wie lange der Leibeigene noch leben würde. Verstohlen beobachtete er, wie der alte Mann nach seinem Bart tastete, als fürchtete er, der Zar könnte sich nachts in die Kammer geschlichen haben, um ihn seines kostbarsten Guts zu berauben. Dann stand er auf und schlurfte hinaus.
    Johannes hätte gerne über dieses Verhalten gelächelt, aber seit dem gestrigen Tag war ihm nicht mehr danach zumute. Ein Verdacht drängte sich ihm auf. Sollte Iwan …? Hastig sprang er auf, schob seine Decke beiseite und klappte den Deckel der Sitzbank hoch, dessen Holz von seinem Schlaf durchwärmt war. Seine Kiste war noch da, so wie er sie hineingelegt hatte. Trotzdem zog er sie hervor und öffnete sie. Er fand nichts Ungewöhnliches. Kein untergeschobenes Bild eines Katers, der den Schnurrbart des Zaren trug. Erleichtert atmete er auf, aber dann fiel ihm ein, dass er an der Stelle eines Verschwörers das Bild ein bisschen besser verstecken würde, und begann Brief für Brief hervorzuziehen und zu entfalten. Christines Bildnis lächelte ihm engelhaft und abwesend zu, da war Simons Nachricht und andere Schreiben, aber nichts Verdächtiges. Endlich war er beim letzten Stück Papier angelangt – der alte Brief von Onkel Michael. Johannes zog ihn heraus und wendete ihn hin und her. Mitten in der Bewegung stutzte er. Es war derselbe Brief, kein Zweifel. Aber ihm war, als würde er ihn zum allerersten Mal sehen. Da war sie – die Zeichnung der Kiste, die sein Onkel vor vielen Jahren für einen Adligen gefertigt hatte. Es erforderte viel Geschick, solche komplizierten Intarsien zu schnitzen und einzulegen, die dieses filigrane Wappen verlangte: das Bild eines geflügelten Fisches.
    * * *
    Erstaunlicherweise ging das Leben weiter wie bisher. Marfa war erleichtert, dass die Nachricht über die ertränkten

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