Der Kuss der Russalka
auch er einen Schnurrbart und seine preußisch anmutende Uniform saß, als wäre sie angewachsen. Er war ein stattlicher Mann und für seine Feinde ein mächtiger und gefährlicher Gegner. Johannes erinnerte sich an die unausgesprochene Drohung, die ihn über den Verbleib der Russalka schweigen ließ, und senkte nun doch den Blick. Darauf schien Oberst Derejew gewartet zu haben. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Nun, was gibt es?«, fragte er.
Johannes räusperte sich und deutete auf den Brief. »Meine Tante Marfa Simeonowna hat Euch geschrieben.«
»Das dachte ich mir fast, als ich den Absender betrachtet habe«, erwiderte Derejew sarkastisch. »Ich werde ihren Brief lesen, sobald du mir geschildert hast, worum es darin geht.«
Gut, dachte Johannes wütend. In höflichen Worten begann er das Gespräch mit Marfa zu schildern. Er berichtete von den ertränkten Katzen und Marfas Vermutung, dass eine Verschwörung dahinterstecken könnte.
Derejew nickte. »Ich hörte, dass bei euch ein Arbeiter entlaufen ist«, meinte er nach einer Weile. »Kanntest du ihn?«
Die Härchen an Johannes’ Nacken stellten sich auf. Er begriff, dass er dabei war, auf dünnes Eis zu laufen. »Flüchtig. Nicht besser als die anderen Arbeiter.«
Derejew beugte sich vor. »Aber du hast mit ihm gesprochen.« Die Stille wurde zu einer Wand aus Eis.
»Ja«, antwortete Johannes schließlich. »Natürlich. Er hat bei uns gearbeitet.«
»Hat er etwas über Sankt Petersburg oder den Zaren gesagt?«
Sie haben ihn bereits, dachte Johannes entmutigt. Sie haben ihn gefangen und verhören ihn. Und nun werde ich geprüft. Wieder machte er sich klar, dass er nicht schuldig war. Er musste preisgeben, was er wusste, dann konnte ihm nichts passieren und – was noch wichtiger war – Derejew würde darauf verzichten, weitere Fragen zu stellen.
»Ja, er sagte, dass die Stadt mitsamt dem Zaren in der Newa ersaufen würde. Diesen Satz hat er irgendwo aufgeschnappt. Aber ich nahm es nicht so ernst – viele der Leibeigenen beklagen ihr Schicksal und hassen die Stadt.«
Derejew lächelte. »Natürlich hassen sie die Stadt. Und euch Deutsche ebenfalls. Was sollen sie sonst tun, außer arbeiten und hassen? Ihr verachtet sie ja schließlich ebenfalls.«
»Das ist nicht wahr«, erboste sich Johannes. »Es ist nicht schwer, Widerwillen gegen jemanden zu empfinden, der einen solchen Hass hegt. Wir sind für sie die Ausländer, die Ketzer und Teufel.«
»Welch philosophische Gedanken der Zimmermann hat«, stellte Derejew spöttisch fest. »Und wie steht es mit dir? Bist du nicht selbst voller Hass? Du magst mich nicht, das ist deine Sache. Aber du urteilst über mich wie über die anderen Russen, das stimmt doch, oder?«
Johannes schwieg.
»Ich kann nicht sagen, dass ich die ganzen Leute, die Zar Peter hierher geholt hat, besonders liebe«, fuhr Derejew fort. »Aber was du auch denken magst, ich bin nicht euer Feind. Ich versuche diese Stadt im Gleichgewicht zu halten. Ich will beides – das Alte und das Neue.«
Johannes wunderte sich, warum ihn die freundlich-kühlen Worte des Obersts so sehr verunsicherten. War er, Johannes, wirklich schon so misstrauisch? Er wusste nicht, was ihn antrieb eine Frage zu stellen. Vielleicht war es der Wein, der immer noch in seinem Kopf sein Unwesen trieb, vielleicht auch Carsten Sund, der ihm all die neuen Möglichkeiten gezeigt und das Gefühl, unsichtbaren Feinden ausgeliefert zu sein, deutlich gemildert hatte. »Wo ist Natascha Neglowna begraben?«, fragte er.
Derejew sah ihn scharf an. »Sag du es mir. Sie ist aus eurer Werkstatt verschwunden.« Johannes war überrumpelt von der Aufrichtigkeit des Obersts. Argwöhnisch beobachteten ihn die braunen Augen. »Wenn Ihr es nicht wisst, warum habt Ihr dann gesagt, ihre Verwandten hätten ihren Leichnam abgeholt?«
»Ich weiß nicht, ob du es begreifst, Zimmermann. Ich habe dir einen Gefallen getan. Wer nahe am Feuer, der nahe am Brand. Ihr seid der Flamme schon sehr nahe gekommen.«
»Was soll das heißen?«
»Der Zar schätzt euch, die Architekten kennen die Arbeit deines Onkels. Aber du kennst den Zaren nicht«, sagte er und beugte sich vor. »Du hast doch in Moskau gelebt. Erinnerst du dich nicht mehr an die jährliche ›Wahnsinns-, Spaß– und Saufsynode‹, die er mit seinen Freunden in den Straßen abhält?«
Natürlich erinnerte sich Johannes an den Mummenschanz, bei dem sich Zar Peters Freunde als Patriarch, als Metropoliten,
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