Der Kuss der Russalka
Weit hinten am Waldrand mühte sich eine Kolonne von Arbeitern ab, die entasteten Stämme allein mit Menschenkraft in Richtung Stadt zu schleppen. Die Wasseroberfläche war rau und undurchsichtig. Nachdenklich ließ Johannes seinen Blick über das gegenüberliegende Ufer schweifen. Angestrengt überlegte er, woher er ein Ruderboot bekommen könnte. Er nahm ein paar Kiesel und ließ sie über das Wasser tanzen. Als alle Kiesel aufgebraucht waren, zog Johannes seine Schuhe aus und watete am Ufer entlang. Der Newasand rieb zwischen seinen Zehen, aber er fühlte sich gut und beinahe lebendig an.
»He!«, raunte ihm die Stimme des Flusses zu. Er fuhr herum und blickte nach rechts in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Die Russalka lächelte.
Besorgt sah er sich um, aber die Arbeiter, die damit beschäftigt waren, ein Pferdefuhrwerk zu beladen, bemerkten weder ihn noch den seltsamen Nebelstreif über der Newa. »Du hast meine Steine gehört«, stellte er fest.
»Steine?«, sagte sie. »Nein, dein Herz schlägt so laut und ungeduldig, dass selbst ein tauber Wal dabei nicht ruhen könnte.« Nun klang ihre Stimme ärgerlich und ihr Mund war schmal und nicht mehr so hübsch wie sonst.
»Ich wollte dich nicht stören«, erklärte er. »Aber ich muss wissen, wo Jewgenij lebt. Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn!«
In ihren Augen glomm Neugier auf. »Ich weiß, wo du ihn findest.«
»Gut! Hör zu, wenn ich ein Boot besorge, würdest du mich über die Newa ziehen? Ich habe gesehen, wir ihr Jewgenij über den Fluss bringt.«
Die Nixe betrachtete ihn prüfend. »Nein«, entschied sie dann.
»Begreifst du denn nicht?«, fuhr er sie an. »Es geht um dein Leben – aber auch um unseres. Ich weiß, wie wir euch retten können! Aber dafür darf ich keine Zeit verlieren!«
Ihre Augen wurden wieder zu Raubfischaugen. Sie schien sich die Entscheidung, ob sich ihn auslachen oder doch ertränken sollte, nicht leicht zu machen. »Eben«, sagte sie spitz. »Du hast keine Zeit, ein Boot zu holen. Ich verstehe ohnehin nicht, was ihr damit wollt!« Ohne auf die Arbeiter zu achten erhob sie sich halb aus dem Wasser und streckte die Arme nach Johannes aus. »Komm ins Wasser«, raunte sie.
Johannes sah ihre Fingernägel an. Sie mussten scharf wie Ritzmesser sein. »Schwimmen?«, brachte er heraus. »Mit dir?«
Die Russalka ließ sich ins Wasser gleiten und schwieg. Er begriff, dass sie ihn hier lassen würde. Es war keine Frage an ihn, es war ein Angebot. Und es galt für diese paar Herzschläge und nicht länger. Ihr Gesicht tauchte unter die Wasseroberfläche und Johannes erkannte plötzlich ein Wasserwesen, nicht Fisch, nicht Mensch, sondern das Unheimlichste von beidem. Kiemen schnappten neben knöchrigen Kiefern, Augen blickten seelenlos, schuppige Haut spannte sich über erschreckend menschliche Züge. Für die Dauer einer flüchtigen Spiegelung hatte er das Gefühl, das wahre Bild der Russalka zu sehen, abstoßend und monströs und doch auf bizarre Weise schön. Widerwillen würgte ihn beim Gedanken, in die Arme dieses Geschöpfes zu tauchen, aber dann sah er Jewgenijs Gesicht vor sich – Jewgenij aus seinem Traum, in der Folterkammer.
Noch nie, so schien ihm, hatte ihn etwas so viel Überwindung gekostet wie die fünf Schritte in das tiefere Wasser. Im nächsten Augenblick war er in einer festen Umarmung gefangen, Arme wanden sich um ihn, Haar strich über seine Wangen und da waren auch die Brüste, die sich beunruhigend an ihn schmiegten. Gerade noch konnte er Luft schnappen. Wie ein seidiger Schal glitt das Wasser an ihm ab. Der Strom zerrte an seinen Wangen, sie mussten sich mit ungeheurer Geschwindigkeit bewegen. Das Rauschen seines eigenen Blutes dröhnte ihm in den Ohren. Unter Wasser riss er die Augen auf. Gesichter blitzten neben ihnen auf, ähnlich dem der Russalka, aber anders, so wie auch Menschen verschieden waren. Eine riesenhafte Hand ergriff seinen Knöchel, riss ihn aus den Armen der Russalka und zog ihn in die Tiefe. Panik übermannte ihn, der Druck in seinen Ohren wurde größer, Wasser drang in seinen Mund, als er reflexartig schreien wollte, aber da war schon eine andere Hand, zupfte an ihm, griff grob in sein Genick und wirbelte ihn herum, bis er nicht mehr wusste, wo oben und unten war, und panisch zu paddeln begann. Überall waren Aalleiber, die sich um ihn schlangen. Ein wirbelnder Kampf entbrannte. Neben ihm ertönte ein katzengleicher Schrei unter Wasser. Die Nixen balgten sich um ihn
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