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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Worten, doch sie schienen vor ihm zu fliehen wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm. »Ich weiß, was ich gesagt habe, aber … ich habe mich immer gefragt, warum ich bei dir … Christine ist verblasst wie ein Traum.«
    Jelena zog eine Braue hoch. »So schnell verblasst die Liebe.«
    »Es war keine Liebe«, fuhr er sie an. Am liebsten hätte er ihr einen Stoß versetzt wie damals, als sie noch Jewgenij war, aber nun wagte er nicht einmal einen Schritt auf sie zuzugehen.
    Sie betrachtete ihn zweifelnd. »Wie du meinst«, erwiderte sie. »Mich geht es nichts an.«
    »Wenn es jemanden angeht, dann dich!«, rief er. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat näher. Um ihm ins Gesicht sehen zu können, musste sie den Kopf heben. Noch nie hatte er sich so bloß und verwundbar gefühlt. Sie konnte ihm das Herz aus der Brust reißen und auf den Boden werfen, begriff er.
    Einen Moment standen sie befangen da, dann trat Jelena einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, Johannes«, sagte sie leise und so nachsichtig, wie die Russalka Mitja den Weg in die Newa verweigerte. Hastig rollte sie die Decke zusammen und wandte sich von Johannes ab, der hilflos dastand, zurückgestoßen, in den Staub getreten und allein.
    Die letzten Meilen nach Jesengorod kam sich Johannes so vor, als müsste er auf einem Teppich aus den Scherben ihrer Freundschaft laufen. Dieser eine Moment, der Blick auf ein verborgenes Leinenband, hatte genügt, um die Wirklichkeit vollständig zu verdrehen. Während sie nebeneinanderher gingen und es vermieden, sich anzusehen, rief sich Johannes jeden Augenblick, der ihn mit Jewgenij verband, noch einmal ins Gedächtnis – von der Prügelei über die Begegnung mit der Russalka bis hin zu Jewgenijs Besuch bei Marfa. Grimmig lächelte er. Natürlich hatte auch Marfa es gewusst, warum sonst hätte sie Jelena zum Umkleiden in die andere Kammer geschickt. Die Tatsache, dass er im Nachhinein immer mehr Hinweise fand, ärgerte ihn maßlos. Inzwischen wuchs die unangenehm dichte Stille zwischen ihnen zur Mauer. Etwa alle hundert Schritte fragte er sich, ob es besser gewesen wäre, er hätte Jelenas Geheimnis nie entdeckt.
    Die Stadt, die sie nach strenger Prüfung des Sendschreibens betraten, war eine sehr alte Siedlung. Umgeben war Jesengorod von einer hohen Kremlmauer, die einige Jahrhunderte alt sein mochte. Mitten auf dem größten Platz stand eine prächtige Holzkirche mit drei goldenen Kuppeln. Jede Kuppel trug ein Kreuz. Das Gold glänzte in der Nachmittagssonne. Seltsamerweise fühlte Johannes sich mit jedem Schritt mehr an Moskau erinnert. Er brauchte einige Zeit, bis er darauf kam, woran das lag: Auch viele Moskauer Straßen waren aus Eichenbrettern gefertigt und ruhten auf erhöhten Holzfundamenten. Johannes sah es nicht, aber er wusste, dass unter den Eichenbrettern, über die sie nun schritten, mit Birkenrinde verbundene Holzrohre lagen, die das Tauwasser oder den Regen ableiteten.
    Auch die meisten Häuser waren aus Holz, es gab nur wenige Gebäude, die zwei Stockwerke hatten. In der Mitte der Stadt sowie nord– und südwärts ragten hohe Wachtürme auf. Wächter standen darauf, deren Aufgabe es war, Brände zu melden. Johannes kniff die Augen zusammen und erkannte die Flaggen aus schwarzem Leder, die die Feuerwächter schwenken würden, sobald sie einen Brand erspähten. In der Nacht warnten sie dagegen mit Fackeln.
    Johannes zuckte zusammen, als Jelena sich an ihn herandrängte. Doch die Hoffnung, es könnte sich um eine Geste der Zuneigung handeln, zerstob, als er sah, wie sie die Gebäude und Straßen musterte. Obwohl sie versuchte ein gleichgültiges Gesicht zu machen, konnte sie nicht verbergen, wie beeindruckt und eingeschüchtert sie war. Im Gegensatz zu ihm war sie noch nie in einer Stadt gewesen – alles, was sie kannte, waren die Sümpfe. Trotzdem genoss er diesen unverhofften Augenblick der Nähe und wich ihr nicht aus. Im Geschäftsviertel saßen Gefangene neben der Straße, die Beine in Schraubstöcke gezwängt, bettelten um Nahrung und erwarteten ihr weiteres Schicksal. Vermutlich würde es sie mit der nächsten Fuhre direkt nach Sankt Petersburg führen, wo sie ihre Strafe abarbeiten mussten.
    Johannes entdeckte einen Popen mit langem Bart und einem Kreuz, das er an einer Kette vor der Brust trug. Auf dem Marktplatz wurden Fuhrwerke mit Getreidesäcken beladen und ein Soldat kontrollierte die Fuhre mit Argusaugen. Wahrscheinlich ein neuer Transport nach Sankt Petersburg.

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