Der Kuss der Russalka
unwahrscheinlich, dass Kolja einen Adligen kannte oder wusste, in welcher Herberge er sich aufhielt. Es würde eine deutlich bessere sein als die hier. Es dämmerte bereits, als er sich wieder zur Kirche aufmachte.
Dutzende von Kirchgängern kamen ihm entgegen. Er dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich Jelena entdeckte. Unauffällig wartete sie am Rand einer Straße und beobachtete vier Adlige, die sich murmelnd unterhielten, während sie zu ihren Pferden zurückkehrten. Johannes ging an Jelena vorbei und spazierte zu einer Gasse weiter, in die er einbog.
Kurz darauf kam Jelena nach. Noch bevor Johannes fragen konnte, schüttelte sie den Kopf. »Kein Bojar mit einer Narbe«, sagte sie leise. Sie sah sich um und zog Johannes aus dem Schatten der Wand. Ihre Augen funkelten. »Aber ich habe etwas anderes gehört. Komm mit!«
Im nächsten Augenblick waren sie wieder auf der Straße. Jelena kniff die Augen zusammen und schien erleichtert zu sein, als sie die Gruppe der Adligen entdeckte. Bei ihnen stand ein Mann in einem langen schwarzen Mantel. Auf dem Kopf trug er eine Art Haubenbinde. Johannes wusste, es war eine »Skuffia«, das Zeichen, dass der Mann ein Geistlicher war – ein Pope.
»Wir folgen ihm«, flüsterte Jelena. »Er ist nicht aus Jesengorod. Ich habe gehört, wie er sich mit einem Mann aus Moskau unterhalten hat.« Jelenas Stimme wurde noch leiser. Sie beugte sich so weit vor, dass Johannes für einen verwirrenden Augenblick ihr Haar an seiner Wange spürte. »Er sagte auch: ›Was ist das für ein Zar? Von Deutschen erzogen und selbst ein Deutscher zwingt er anständige Bürger sich wie Ketzer zu kleiden.‹«
Johannes wurde kalt. Onkel Michael hatte ihm erzählt, dass ein Pope in Karpakows Haus lebte – und auch der einäugige Arbeiter hatte einen Geistlichen erwähnt, der in Jesengorod davon sprach, dass der Zar mit seiner Stadt untergehen würde. Konnte es sein, dass Karpakow schon länger in Jesengorod weilte? »Gut«, meinte er. »Finden wir heraus, wo die Verschwörer ihr Nest haben.«
Es war nicht einfach, den Mann im Auge zu behalten. Wie eine magere Straßenkatze huschte er von Schatten zu Schatten, lief rasch über Plätze und Gassen und sah sich mehrmals um, ohne dass ihm Johannes und Jelena aufgefallen wären. Bald befanden sie sich in einem prächtigen Viertel der Stadt. Hohe Häuser standen hier, zum Teil aus Stein erbaut, die meisten jedoch aus Holz. Die Dächer waren so steil, dass der Schnee im Winter herabrutschte. Einige Gebäude standen erhöht auf hölzernen Stelzen, überdachte Treppen führten zu den Räumen. An Dachsparren und Firstbalken waren kunstvolle Schnitzereien zu erkennen. Solche »Holzstickereien« hatte Johannes schon oft bewundert. Nicht weniger kunstvoll waren die verzierten Balustraden.
Der Pope huschte über einen kleinen Hof und verschwand durch die Tür ins Innere eines Hauses. Johannes und Jelena blieben stehen und verbargen sich neben der Mauer. Die Dämmerung senkte sich über die Stadt. Das Haus lag am Ende der Straße. Auf wuchtigen Holzwänden ruhte ein ausladendes Dach. Es war das Haus eines Patriarchen, eines Adligen, der die Tradition liebte. Über der Tür war ein Wappen eingeschnitzt. Ein Fisch mit zwei Vogelschwingen.
»Karpakow lebt also nicht in einer Herberge«, flüsterte Johannes. »Wer weiß, wie lange es her ist, seit er aus Moskau hierher umgezogen ist.«
»Vermutlich, als Zar Peter angefangen hat die neue Stadt zu bauen«, erwiderte Jelena. Unsicher betrachtete sie die Fenster. »Du kennst dich doch aus mit dieser Art von Häusern. Wo lebt der Hausherr?«
»In dem Haus gibt es mindestens acht Zimmer«, murmelte Johannes. »Es könnte das Fenster dort oben sein -links neben dem Stall.«
Düster spähte Jelena zu den Stallungen, die sich rechts vom Hauptgebäude erhoben. »Man könnte über das Stalldach klettern.«
Ihre Stimme klang erschöpft und Johannes wagte es, den Arm auszustrecken und sie zurückzuhalten. »Lass uns warten, bis es Nacht ist«, sagte er leise.
* * *
In Koljas Gaststube drückten sich einige schäbig aussehende Reisende herum. Johannes ließ sich nicht auf ein Gespräch ein, sondern griff sich den Krug mit Kwass und ein Stück Brot mit Speck, für den Kolja einen unverschämten Preis verlangte, und ging mit Jelena in die muffige Kammer. Dort ruhten sie sich aus und warteten, bis die Geräusche im Haus leiser wurden und schließlich verklangen wie der letzte Schlag einer alten Spieluhr. Eine seltsame Ruhe lag
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