Der Kuss der Russalka
gesteckt?«
»Ich?« Sie lachte leise. »Brehmow, hör auf. Der Idiot von Stallbursche ist von dem Tumult im Haus aufgewacht, sah mich und wollte seine Herrschaft alarmieren. Es gab -ein Handgemenge. Im Stall ist eine Lampe umgefallen. Er hat mich ganz schön erwischt. Ich dachte, er würde mir den Arm auskugeln.« Ihre Stimme begann zu zittern und sank zu einem bangen Flüstern. »Hast du …«
»Ja.« Am liebsten hätte er dieses Wort triumphierend herausgeschrien, aber er griff nur nach Jelenas Arm und drückte den Beutel mit der Perle in ihre Hand. »Hier ist sie!«, flüsterte er. »Aber wir müssen weg – es ist mir nicht gelungen, die Perle zu vertauschen.«
»Was?«
»Sie ist mir aus der Hand gefallen. Ich kann nur hoffen, dass Karpakow nicht vor morgen in die Kiste schaut.«
»Hat Karpakow dich gesehen?«
»Viel schlimmer.« Er holte tief Luft und erzählte ihr von Karpakows Schreibtisch, von den Papieren, dem geplanten Haftbefehl – und von dem Namen Jewgenij Michailowitsch Skasarow, den Karpakow auf seiner Liste vermerkt hatte. Sie entfernte sich mit leisen Schritten. Er hörte einen Laut, der seinen ganzen Triumph wegschwemmte. Weinte sie etwa? »Was machst du?«, fragte er.
»Wir haben die Perle«, flüsterte Jelena in weiter Ferne. Er erkannte, dass der Laut ein unterdrücktes Lachen gewesen war. »Das ist die Hauptsache. Die Russalkas werden leben.«
In diesem Augenblick klappte ein Fensterladen auf. Das Dämmerlicht der Spätnacht fiel herein und ließ Jelena wie einen Schattenriss aus einem Puppentheater aussehen. »Ich will mir die Perle anschauen«, sagte sie. »Komm her!«
Nur zu gern folgte er dieser Aufforderung und war überrascht, als Jelena ihn in der Dunkelheit umarmte. Es war nicht länger die spröde, beinahe abweisende Umarmung von Jewgenij. »Ich danke dir«, sagte sie leise. Viel zu schnell ließ sie ihn wieder los und setzte sich unter das Fenster. Sie holte den Schatz der Russalka aus dem Beutel und reichte ihn Johannes.
Glatt wie Seide fühlte sich die Perle an. Behutsam ließ er sie in seine Handfläche rollen. Sie war perfekt. Als er sie genauer betrachtete, blieb ihm der Mund offen stehen. Das Rot leuchtete wie Lava und legte einen hellroten Lichthof auf seine Handfläche. Das Perlmutt glänzte in allen Farben des Blutes und vermengte sich mit dem satten Ton von Abendrot. Die Perle war schwer von Alter und Kraft, ein Geheimnis ruhte in ihr und vereinte alle Stimmen des Meeres. Johannes sah Bilder von tanzenden Körpern, die von der Strömung getragen wurden – hinaus in die Tiefen, dorthin, wo kein Licht mehr war, nur dieses Pulsieren des letzten Lichtes, rot und ewig. Johannes fühlte, wie alle Angst für einen Moment verschwand und sein Herz sich in einen Schwarm von Schmetterlingen auflöste. Er war so glücklich, als hätte er das ganze Leben lang nur für diesen Augenblick gelebt – hier mit Jelena sitzend, eng aneinander gekauert unter einem Fenster, eine Perle in seiner Hand.
* * *
Kolja sah aus, als hätte er die Nacht damit verbracht, auf die Straße zu starren. Seine Augen waren verquollen und rot, seine Laune dagegen rabenschwarz. Dennoch versuchte er höflich zu seinen Gästen zu sein, die schon so früh auf den Beinen waren. Die Kascha schmeckte nach Lehm und Wurmmehl, aber Jelena und Johannes löffelten sie ohne eine einzige Bemerkung aus und hörten dem Gemurmel zu, das wie heißer Fettdampf durch die Stube waberte. Von einem Brand war die Rede, der nur mühsam gelöscht werden konnte, von Brandstiftern und Räubern. Die Stadtwache hatte mehrere verdächtige Gestalten verhaftet, die sich in der Nähe von Karpakows Haus herumgetrieben hatten. Die Wirtin, Koljas Frau, bekreuzigte sich mehrfach und murmelte etwas vom Teufel, und Johannes musste Jelena unter dem Tisch einen leichten Tritt gegen das Schienbein geben, weil sie sich ein Lachen nicht verkneifen konnte. Viel sagend sah sie ihn an, zog die Augenbraue hoch und nickte. »Lasst dieses Geschwätz von Teufeln nicht den Zaren hören«, brummte Kolja mit einem Blick auf Johannes. Johannes tat so, als habe er den Wink an die Frau nicht verstanden, aber er befand, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Hastig schlangen sie den Rest des Frühstücks hinunter und holten ihre Habseligkeiten.
Die Straßen schliefen noch, die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen und das diesige Morgenlicht breitete über die Straßen, in denen vor wenigen Stunden noch ein Aufstand getobt hatte, einen stillen
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