Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
Vom Netzwerk:
Bei Tageslicht, selbst bei diesem Regen, wagte er sich nicht aus dem Auto. Ein roter Zug ratterte unter der Straße hindurch und kam zum Stehen. Er hielt den Atem an. Die ersten Leute, die aus dem Zug ausgestiegen waren, erschienen auf dem Bürgersteig. Ein Mann legte sich eine Zeitung auf den Kopf und rannte los, ein kleiner Pulk Frauen kämpfte flatternd mit Regenschirmen, die nicht aufgehen wollten. Drei von ihnen öffneten sich gleichzeitig, ein roter, ein blauer und eine orangefarbene Pagode erblühten plötzlich in dem stumpfen Grau wie Blumen. Als sie sich entfaltet hatten und davontanzten, gaben sie den Blick frei auf das, was sie mit ihrem leuchtenden Kreisrund verborgen hatten – ein Paar mit dem Rücken zur Straße, das dicht beieinander stand, ohne sich jedoch zu berühren, während der Mann einen schwarzen Schirm aufspannte, der sie alsbald unter seinem Dach verbarg.
    Sie trug Jeans und darüber einen weißen Regenmantel, dessen Kapuze hochgeschlagen war. Wexford hatte keinen Blick auf ihr Gesicht werfen können. Sie hatten sich in Bewegung gesetzt, als wollten sie zu Fuß gehen, aber ein Taxi kam spritzend herangefahren, und sein beleuchtetes Schild glomm rötlich wie ein Zigarettenende. Hathall winkte ihm, und es trug sie in nördlicher Richtung davon. Herrgott, dachte Wexford, bitte laß sie nach Hause fahren und nicht in irgendein Restaurant. Er wußte, er hatte keine Chance, einen Londoner Taxifahrer zu verfolgen, und wirklich war der Wagen bereits verschwunden, ehe er auch nur wieder in der West End Lane war.
    Und die Fahrt die Steigung hinauf ging zum Verrücktwerden langsam. Er war hinter einem Bus der Linie 159 eingeklemmt, ein Bus, der nicht rot war, sondern über und über mit Spielzeugreklame für Dinky Toys bemalt, die ihn an Kidds in Toxborough erinnerte. Es vergingen nahezu zehn Minuten, ehe er das Haus in der Dartmeet Avenue erreichte. Das Taxi war fort, aber Hathalls Licht brannte. Kein Wunder, an einem solchen Tag mußte man schon mittags Licht machen. Während er auf die Haustür zuging und die Klingelschilder betrachtete, fragte er sich mehr aus Interesse als aus Furcht, ob Hathall wohl auch ihn schlagen würde. Unter den Klingelknöpfen standen keine Namen, lediglich die Nummern der Stockwerke. Er drückte die Klingel der ersten Etage und wartete. Es war möglich, daß Hathall gar nicht herunterkam, daß er sich einfach weigerte, aufzumachen. In dem Fall würde er sich jemand anderen suchen, der ihm öffnete, und dann gegen Hathalls Zimmertür hämmern.
    Aber das erwies sich als unnötig. Über seinem Kopf ging ein Fenster auf, und als er ein wenig zurücktrat, blickte er hinauf in Hathalls Gesicht. Im ersten Moment sprach keiner von beiden. Der Regen strömte zwischen ihnen nieder, und durch ihn hindurch starrten sie einander an. Sehr unterschiedliche Emotionen spiegelten sich nacheinander auf Hathalls Gesicht während dieser Augenblicke – Verblüffung, Wut, Argwohn … aber Angst nicht, dachte Wexford. Und auf das alles folgte etwas, das merkwürdig nach Befriedigung aussah. Aber noch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, sagte Hathall kalt:
    »Ich komme runter und laß Sie rein.«
    Keine fünfzehn Sekunden später hatte er es getan. Er schloß die Tür und deutete, ohne etwas zu sagen, auf die Treppe. Wexford hatte ihn noch nie so ruhig und höflich erlebt. Er wirkte vollständig gelassen. Er sah jünger aus und – irgendwie siegessicher.
    »Würden Sie mich bitte mit der Dame bekannt machen, die Sie in einem Taxi mit hierhergebracht haben?«
    Hathall begehrte nicht auf, er sprach auch nicht. Hat er sie versteckt? überlegte Wexford, während sie die Treppe hinaufgingen. Hat er sie in irgendeine Toilette geschickt, oder rauf ins oberste Stockwerk? Seine Zimmertür war nur angelehnt, er stieß sie auf und gestattete dem Chief Inspector, als erster einzutreten. Wexford ging hinein. Als erstes sah er ihren Regenmantel, der zum Trocknen über einer Stuhllehne hing.
    Zunächst entdeckte er sie gar nicht. Das Zimmer war sehr klein, es maß kaum mehr als drei mal vier Meter, und es war möbliert, wie solche Räume es immer waren: ein Schrank, der aussah, als sei er zur Zeit der Schlacht von Mons hergestellt worden, ein schmales Bett mit einem indischen Baumwollüberwurf, ein paar Stühle mit hölzernen Armlehnen, die euphemistisch ›Kaminsessel‹ genannt wurden, und Bilder, die todsicher von irgendeinem Verwandten des Hauswirts gemalt worden waren. Das Licht kam aus einer

Weitere Kostenlose Bücher