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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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Gefühl, als ob jetzt etwas Schlimmes käme. Und es kam. »Er hat alles fix und fertig«, sagte sie. »Am Tag vor Heiligabend reist er ab.«
    In weniger als einem Monat…
    »Hat er dort drüben einen Job?« fragte er gleichmütig.
    »Eine sehr gute Position bei einer internationalen Wirtschaftsprüferfirma.« Es lag etwas Rührendes in dem Stolz, mit dem sie das sagte. Der Mann haßte sie, hatte sie gedemütigt, würde sie wahrscheinlich nie wiedersehen, und trotz alledem war sie auf bittere Weise stolz auf das, was er erreicht hatte. »Kaum zu glauben, was er dort für Geld kriegt. Er hat es Rosemary erzählt, und sie hat es mir erzählt. Er wird von London aus bezahlt, und ehe er sein Geld kriegt, ziehen sie davon ab, was mir zusteht. Er wird trotzdem noch Tausende und Tausende jährlich zum Leben haben. Und die Überfahrt zahlen sie ihm, alles ist für ihn erledigt, sogar ein Haus wartet da drüben schon auf ihn. Nichts, rein gar nichts brauchte er zu tun.«
    Sollte er ihr erzählen, daß Hathall nicht allein rübergehen würde, daß er nicht allein in dem Haus leben würde? Sie war schwerer geworden während des vergangenen Jahres, ihr dicker Körper – überall Wülste, wo keine sein sollten – war in lachsrosa Wolle gequetscht. Und sie war permanent hochrot angelaufen, so, als befände sie sich in einem ständigen Wettlauf. Vielleicht war es auch so. Ein Wettlauf, um mit ihrer Tochter mitzuhalten, um immer einen Schritt voraus zu sein der Angst, dem Abschied und der öden Langeweile, die hinter allem lauerten? Während er noch zögerte, fragte sie plötzlich: »Warum wollen Sie das wissen? Sie glauben, er hat diese Frau umgebracht, stimmt’s?«
    »Glauben sie es?« fragte er kühn zurück.
    Hätte man ihr ins Gesicht geschlagen, ihre Haut hätte nicht flammender rot werden können. Haut wie ausgepeitscht, kurz vorm Platzen und Bluten. »Ich wollte, er hätte es getan!« stieß sie hervor, japste nach Luft und hob die Hand, nicht, um sie über die Augen zu legen, wie er zuerst dachte, sondern über ihren zitternden Mund.
    Er fuhr nach London zurück, zu einer ergebnislosen Freitagabendwache, einem leeren Samstag und einem Sonntag, der ihm vielleicht – bloß vielleicht – bringen konnte, was er sich so wünschte.
    Erster Dezember, und wieder goß es in Strömen. Aber der Regen kam Wexford gelegen. Er fegte die Straßen leer und verringerte die Gefahr, daß Hathall in ein verdächtig aussehendes Auto spähen würde. Um halb eins hatte er den Wagen auf der gegenüberliegenden Seite so dicht an der Station geparkt, wie er es riskieren konnte, denn er durfte weder von Hathall entdeckt werden, noch die enge Passage versperren. Der Regen trommelte hart auf das Wagendach, gurgelte die Gosse entlang zwischen Bordstein und gelb gemaltem Streifen. Aber dieser Regen war so heftig, daß er, wie er so über die Windschutzscheibe herabfloß, nicht seine Sicht behinderte, sondern sie lediglich leicht verzerrte wie fehlerhaftes Glas. Er konnte den Eingang der Station ganz klar erkennen und ebenso rund hundert Meter der West End Lane bis dorthin, wo sie über die Eisenbahnschienen buckelte. Unsichtbar ratterten Züge unter ihm, Busse der Linie 28 und 159 fuhren die Anhöhe hinauf und herab. Es waren nur wenige Leute zu sehen, und doch schien es, als sei die ganze Bevölkerung unterwegs, unterwegs von einem unbekannten Zuhause zu einem unbekannten Bestimmungsort, unterwegs durch das feuchte, bleiche Grau dieses Wintersonntags. Die Zeiger der Uhr im Armaturenbrett krochen langsam durch die Viertelstunden auf ein Uhr zu.
    Er hatte sich mittlerweile so ans Warten gewöhnt, so resigniert aufs Beobachten eingestellt wie einer, der einem scheuen, verschlagenen Tier auf der Spur ist, daß es ihn wie ein elektrischer Schlag traf, ein zunächst ungläubiges Erschrecken, als er in der Ferne Hathalls Gestalt erkannte. Das Glas spielte ihm Streiche. Es war wie in einem Spiegelkabinett – zuerst ein knochendürrer Riese, dann ein fetter Zwerg, aber ein einziger Ausschlag des Scheibenwischers brachte ihn unvermittelt klar ins Bild. Mit aufgespanntem Regenschirm ging er rasch auf die Station zu – glücklicherweise auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er ging an dem Wagen vorüber, ohne den Kopf zu wenden, und vor der Station blieb er stehen, ließ den Schirm auf- und zuschnappen, um die Wassertropfen abzuschütteln, und verschwand dann im Eingang.
    Wexford war in einem Dilemma. Wollte er jemanden abholen oder selber wegfahren?

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