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Der Kuss der Sirene

Der Kuss der Sirene

Titel: Der Kuss der Sirene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Hubbard
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starrt mich kreidebleich und mit offenem Mund an, ihre Augen sind weit aufgerissen. Ihr platinblondes Haar weht im Wind.
    Sie hat einen Strauß aus roten Rosen fallen lassen. Warum hat sie die Blumen nicht an seinem Todestag gebracht?
    Â»Du … du …«
    Offenbar bekommt sie kein Wort heraus und auch ich bin so aus der Bahn geworfen, dass ich mich nicht von der Stelle rühren kann. Wir sind beide wie erstarrt und unser Schweigen scheint sich ewig hinzuziehen. Schließlich blinzele ich und stehe auf.
    Â»Es tut mir leid. Ich werde gehen.« Ich stürze an ihr vorbei, doch in diesem Moment findet sie ihre Stimme wieder.
    Â» Warte! «
    Ihr scharfer Ton bremst mich, aber ich drehe mich nicht zu ihr um. Ich starre einfach auf die Trauerweide am Wegrand und sehe zu, wie der Wind sich die Blätter holt. Lautlos landen sie zwischen den Grabsteinen.
    Â»Wie lange hast du …« Ihre Stimme versagt. »Wie oft kommst du hierher?«
    Ich schlucke. Vielleicht sollte ich nicht reagieren und einfach weitergehen.
    Â»Sieh mich an«, sagt sie.
    Ich schließe die Augen und lasse die Sekunden verstreichen. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, also tue ich, was sie verlangt. Ich kann so viel in ihren Augen lesen, doch am meisten erschreckt mich, dass darin etwas fehlt: Feindseligkeit.
    Â»Sag schon!«
    Ich presse die Lippen aufeinander und schlucke. Ich könnte sie anlügen. Ich sollte sie anlügen. Doch die Worte rutschen mir einfach heraus, so leise, dass ich nicht einmal sicher bin, ob sie sie hören kann. »Jeden Tag.«
    Sie wendet den Blick von mir ab und schaut auf ihre schwarzen Ballerinas. Ihre Brust hebt und senkt sich, als wäre sie kilometerweit gerannt. Sie ballt die Hände zu Fäusten, starrt zum dunklen wolkenverhangenen Himmel hinauf und schreit wie ein wildes Tier. Ihr Kontrollverlust erschreckt mich so sehr, dass ich zurückweiche.
    Der Schmerz steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ein Schmerz, den sie in den letzten zwei Jahren verborgen hat. Und ich bin die Ursache dafür.
    Als sie mich wieder ansieht, funkeln ihre Augen. Plötzlich ist sie wieder jenes Mädchen, das ich an jenem Tag zurückließ, als ich auf meiner Geburtstagsparty durch die Hintertür nach draußen schlüpfte. Der einzige Unterschied besteht darin, dass jetzt etwas in ihr zerbrochen ist. Ich habe einen Kloß im Hals und das Herz rutscht mir in die Hose.
    Die erste Träne rinnt über ihre Wange und ihre Unterlippe zittert. »Ich dachte die ganze Zeit, du wärst eine eiskalte Schlampe. Ich dachte, es sei dir völlig egal, dass er fort ist. Ich habe dir die Schuld gegeben, weil du bei ihm warst, als er starb. Dabei hast du nur …« Sie bricht ab und schaut auf sein Grab. »Hast du ihn geliebt?«
    Die erste Träne landet auf meiner Hand, dabei habe ich nicht mal bemerkt, dass ich weine. Ich nicke.
    Â»Verdammt noch mal, Lexi! Warum hast du mir das nicht gesagt?«, kreischt sie.
    Â»Es tut mir leid, okay! Ich dachte, es wäre leichter, wenn du mich einfach hasst!« Ich werfe die Hände hoch und bemühe mich, nicht zu schreien wie sie.
    Sie kommt näher und schüttelt den Kopf. »Ich hätte es verstanden.«
    Ich zittere.
    Wir stehen uns so lange schweigend gegenüber, bis es zu regnen beginnt. Endlich ergreift sie wieder das Wort, jedoch so leise, dass ich sie inmitten des prasselnden Regens kaum verstehen kann. »Können wir darüber reden? Lass uns einfach von hier verschwinden und irgendwo einen Kaffee trinken!«
    Sie klingt so hoffnungsvoll, dass ich am liebsten Ja gesagt hätte. Auf einmal steht wieder meine beste Freundin vor mir, die alle meine Geheimnisse kennt – bis auf eines. Doch dieses eine Geheimnis trennt uns für immer voneinander.
    Ich schüttele den Kopf. »Ich muss gehen. Verzeih mir. Verzeih mir alles.« Ich eile davon, während ich angestrengt lausche, ob sie mir folgt.
    Doch ich höre nur den Wind und den Regen und das Klopfen meines Herzens.

Kapitel 11
    Den folgenden Nachmittag verbringe ich am Meer und laufe zum ersten Mal seit Monaten am Strand entlang. Ich laufe durch das flache Wasser und warte auf ein Zeichen. Das Meer hat mir alles genommen. Was ist falsch daran zu hoffen, dass es mir auch einmal etwas zurückgeben könnte? Vielleicht den Hauch einer Antwort?
    Die Sonne wandert über den Himmel und ich weiß, dass mir nur noch zwei Stunden bleiben.

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