Der Kuss der Sirene
die Realität einholt. Es gibt zu viele Löcher in meinem Plan â als hätte ich alles auf einem Schweizer Käse notiert. Ich kann meine kranke GroÃmutter nicht allein lassen. Ich kann mir die Studiengebühren für ein College nicht leisten. Ich kann nicht von meinem See wegziehen. Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht. Aber der Traum von einer Welt, in der sich all meine Probleme in Luft auflösen, ist das Einzige, was mich aufrechthält.
Ich laufe den vertrauten Weg zu Stevens Grab. Als der Wind auffrischt, schiebe ich die Hände in die Taschen. Die salzige Luft erinnert mich ans Meer, und das wiederum erinnert mich daran, dass ich in weniger als einer Stunde im Wasser sein muss. Ich lasse mich im Gras auf die Knie sinken. Stevens Grabstein ist von Blumen umgeben, die Angehörige und Freunde an seinem zweiten Todestag dort abgelegt haben. Sie halten mir bildlich vor Augen, wie viele Menschen ich verletzt habe.
»Hallo Steven.« Ich hocke mich hin, mache es mir für die nächsten zehn Minuten bequem, die ich mit ihm, meinem einzigen Vertrauten, verbringen werde.
Der Chevrolet von Hot Wheels ist verschwunden. Ich frage mich, wer ihn weggenommen hat. Wahrscheinlich die Grabpfleger. Sie haben eine Menge pingeliger Regeln, was man an einem Grab zurücklassen darf und was nicht, da alles andere die Instandhaltung erschweren könnte. Eigentlich spielt es aber auch keine Rolle, wer es war. Ich besitze noch mein Exemplar, das auf dem Fensterbrett in meinem Zimmer steht. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und Hausaufgaben mache, betrachte ich das kleine Auto manchmal.
Ich atme tief ein und schlieÃe die Augen. Ich weià nicht, wo ich anfangen soll. »Ich habe letztens mit Sienna gesprochen. Nicht viel ⦠aber immerhin. Ich verdiene ihre Freundschaft nicht, aber ich vermisse sie immer noch. Wir waren uns immer sehr nah. Vielleicht ist es ja auch gut, dass sie mich hasst. Denn sonst hätte ich schon längst versucht ihre Freundschaft zurückzugewinnen.«
Ich pflücke einen Grashalm drehe ihn zwischen den Fingern. »Manchmal kann ich ihre Gegenwart kaum ertragen. Ich kann sie nicht einmal ansehen, ohne dabei an dich zu denken.
Sie vermisst dich, weiÃt du. Sie würde das nie zugeben, denn sie will keine Schwäche zeigen. Aber ich kenne sie zu gut, um auf diese Masche hereinzufallen.«
Ich seufze. Eigentlich möchte ich im Moment nicht über Sienna reden. »Cole ist der Einzige, der mich nicht hasst.« Ich spüre einen kleinen Stich, als ich den Namen vor Steven ausspreche.
Ich blicke in den Himmel hinauf. Die dunklen Wolken, die am Nachmittag aufgezogen sind, verdichten sich immer mehr. »Er ist jetzt ganz anders, als du ihn gekannt hast. Zuerst habe ich die Veränderung gar nicht bemerkt. Er war dir immer sehr ähnlich: Lachen, Witze machen und Mädchen aufreiÃen. Aber er ist viel ruhiger geworden, irgendwie ernsthafter.
Er versucht ständig mit mir zu reden, und ich kann mich nur schwer zurückhalten. Er sieht mich an und es ist, als könnte ich ihm alles sagen, wirklich alles . Was soll ich nur tun, Steven?«
Der Wind frischt auf und ich rieche das Gras.
»Ich sollte dir das wahrscheinlich gar nicht erzählen. Du hast mir deine Geheimnisse anvertraut, doch ich hatte nie die Chance, dir meine zu verraten. Und jetzt würde ich sie ihm am liebsten erzählen, obwohl du derjenige hättest sein müssen. Es gab immer nur dich.«
Stevens sandfarbenes Haar und die hellen, lustigen Augen haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Er hat Leben in jede Party gebracht. Seine Abwesenheit wurde sofort spürbar. Alles wurde ruhiger ohne ihn.
Meine Augen starren ins Leere und ich drücke den Grashalm zu einem grünen Kügelchen zusammen. »Was soll ich tun? Kann ich Cole vertrauen? Oder soll ich ihn dazu bringen, dass er mich wie alle anderen hasst? SchlieÃlich ist es dir gegenüber nicht fair, wenn ich mich auf ihn einlasse.« Ich berühre den Grabstein. »Ich wünschte, du könntest mir sagen, was ich tun soll.«
Ein dumpfer Aufprall hinter mir lässt mich herumwirbeln. Ich kippe nach hinten, lande auf meinem Hintern und schramme haarscharf mit dem Kopf am Stein vorbei.
Sienna steht in einer dunkelblauen Jeans und einer schwarzen, zugeknöpften Kapitänsjacke vor mir, und der Kontrast zwischen ihren dunklen Klamotten und ihrer blassen Haut ist erschreckend. Sie
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