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Der Kuss des Anubis

Titel: Der Kuss des Anubis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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toten Pharao. Jeder in Waset wusste, dass Kemets nächster König Eje heißen würde, auch wenn er die Doppelkrone erst nach der Beisetzung Tutanchamuns tragen konnte.
    Man munkelte, er wolle seine eigene Enkelin heiraten. Und dass der Hof sehr bald ganz nach Mennefer umziehen würde, was entscheidende Auswirkungen auf die Stadt hätte. Viele Handwerker bangten um ihre Aufträge; Kaufleute sorgten sich darum, ob sie wie bisher noch reichlich kostbare Stoffe und Öle absetzen könnten.
    Ängstliche Erwartung lag über Waset.
    Von alledem spürte Miu nichts. Sie summte vor sich hin, als sie sich der Anlegestelle näherte, um ihre Aufregung in Zaum zu halten, schaute, sobald sie auf der Fähre war, in das Grün des Wassers, das träge und langsam floss, und versuchte, sich vorzustellen, was sie auf dem Westufer erwartete.
    An den Werkzeugen der beiden Männer, die zufällig
neben ihr standen, erkannte Miu, dass es Männer aus dem Wüstendorf waren, und plötzlich fiel ihr wieder jener vergessen geglaubte Tag ein, als andere Arbeiter einen Schwerverletzten zum Sterben nach Hause brachten. Sein gebrochenes Bein, das sich entzündet und vergiftet hatte und nicht mehr heilen wollte - viele sagten, an solch einer Wunde sei auch Tutanchamun gestorben.
    Der wolkenlose Tag schien plötzlich etwas von seinem heiteren Glanz verloren zu haben. Mius Kehle wurde eng. Für sie war Tutanchamun sehr viel mehr gewesen als ein Pharao, auch wenn es zum Schluss gerade der König gewesen war, der sie am meisten enttäuscht hatte. Wie oft war sie diesen Weg zum Palast schon gegangen, mit ganz unterschiedlichen Empfindungen! Jeder Schritt war ihr vertraut - und dennoch würde heute alles anders sein.
    Das bekannte Zeremoniell am Tor, die Frage nach der Audienz, die Bewaffneten, die sie drinnen in Empfang nahmen und eskortierten. Unwillkürlich schaute Miu in ihre Gesichter, doch sie erkannte keinen Einzigen wieder.
    Nirgendwo eine Spur von Mayet. Großmama hatte Miu erzählt, sie sei krank vor Kummer und habe ihr Bett seit Wochen nicht mehr verlassen können.
    Eje empfing sie im Thronsaal und auch hier hatte sich bereits einiges geändert. Den bunten, über und über mit Gold verzierten Thron, der für sie stets mit Tutanchamun verbunden gewesen war, hatte man entfernt. Stattdessen saß der Göttervater auf einem schlichten Thron aus dunklem Holz, dessen Lehnen mit Elfenbein und Gold verziert waren.
    Miu wollte vor ihm zu Boden fallen, doch er winkte sie heran.

    »Lass es uns nicht so offiziell machen«, sagte Eje. »Noch trage ich nicht Krummstab und Wedel.«
    Neben ihm hatte ein roter Kater gelegen, der jetzt aufgesprungen war und seine Beine beschnüffelte - Jamu!
    Ejes Hand fuhr langsam über seinen Rücken. Der Kater schnurrte, eine Szene voller Hingabe und Zuneigung.
    »Ich danke dir, dass du mich empfangen hast«, sagte Miu mit klopfendem Herzen; zugleich war sie aber auch erleichtert, dass der Feuerkater einen neuen Herrn gefunden hatte.
    »Das bin ich deinem Vater schuldig, und in gewisser Weise wohl auch deiner Mutter.« Ejes Stimme klang weicher, als Miu sie in Erinnerung hatte. Und eine leise Traurigkeit schwang darin, die sie berührte. »Sadeh ist noch nicht wieder nach Mennefer gereist?«
    »Ich denke, sie wird hierbleiben. Schließlich haben Mama und ich jede Menge zu bereden. So einfach mache ich es ihr nicht! Auch wenn ich inzwischen weiß, was damals in der Sonnenstadt alles geschehen ist, kann ich noch immer nicht verstehen, wie sie mich allein lassen konnte. Mama wird sich gute Antworten einfallen lassen müssen, damit ich endlich damit abschließen kann. Papa und sie streiten sich übrigens immer noch gelegentlich. Aber gestern Morgen ist Mama aus Papas Zimmer gekommen …« Verlegen hielt sie inne. Wie kam sie dazu, vor dem künftigen König intimste Familiengeheimnisse auszuplaudern?
    Eje begann zu lächeln.
    »Weißt du, dass ich euch beneide?«, sagte er. »All die Menschen, die ich je geliebt habe, habe ich verloren. Und diesen jungen König, der morgen begraben wird, liebte ich am allermeisten. Dein Vater hat wunderbare Arbeit geleistet,
Miu. Niemals habe ich eine bessere Balsamierung gesehen. So gerüstet, wird Tutanchamun ein schönes Leben in der Ewigkeit führen können.«
    Miu sah ihn lange an.
    »Dir hat er ebenfalls viel bedeutet«, fuhr der alte Mann fort. »Und du ihm auch, das habe ich gespürt. Du hast ihn geliebt …«
    »Nein«, sagte Miu und fühlte sich auf einmal innerlich ganz frei und leicht.

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