Der Kuss des Anubis
da von
Dir verlange. Doch um unserer Tochter willen bitte ich Dich von ganzem Herzen: Kommt nach Waset, Sadeh. Und bitte komm schnell.
Sonst könnte etwas Schreckliches passieren.«
Stille breitete sich aus. Anis Gedanken überschlugen sich.
»Ich denke, du solltest in aller Ruhe mit mir reden«, sagte er nach einer Weile. »In meinem Beruf sind mir schon viele seltsame Geschichten begegnet.«
»Das kann ich nicht. Bitte dring nicht weiter in mich, um deinetwillen! Doch mit dem Brief hast du mir bereits sehr geholfen. Du wirst kein Wort darüber verlieren? Zu niemandem? Auch nicht zu Miu?«
»Wenn es unbedingt sein muss«, sagte Ani mühsam.
»Das muss es!« Ramoses Blick glitt ins Weite. »Morgen schon geht der Brief mit einem Handelsschiff auf die Reise nach Mennefer. Ich kann nur hoffen, Sadeh hat ein Einsehen und kommt.«
»Und wenn nicht?«
»Daran will ich lieber gar nicht denken.«
Ani erhob sich. Sein Bein pikste und stach, als hätte sich ein Schwarm wilder Bienen darin verirrt. Doch nach außen hin ließ er sich nichts von seinen Schmerzen anmerken.
»Es ist keine Schande, um Hilfe zu bitten«, sagte er, als er schon im Gehen war. »Auch dann nicht, wenn man jemandem an Alter und Ansehen weit überlegen ist.«
»Mir kann keiner helfen.« Ramose klang dumpf. »Keiner außer Sadeh. Trotzdem hab Dank, mein Junge!«
Es lag eine Verbocktheit in seinem Tonfall, die Ani ärgerte, aber er verkniff es sich, darauf einzugehen.
Er war schon aus dem Haus und ein ganzes Stück weit auf der staubigen Straße gegangen, als er plötzlich ein Schnaufen hinter sich hörte. Rasch drehte er sich um.
»Miu!«
Ihre Haare waren aufgelöst, die Augen voller Angst.
»Was ist geschehen?«, fragte er.
»Ich hab den Mann mit dem Geierprofil wiedergesehen«, keuchte sie. »Das wollte ich dir unbedingt sagen, sonst weiß keiner davon. Es war an jenem Morgen, als wir nach dem nächtlichen Verhör den Palast endlich wieder verlassen durften.«
»Du bist dir ganz sicher?« Ani vertrieb den Gedanken an Userkaf, der ihn wie eine fette Kröte anspringen wollte.
»Und ob! Er stand an einem Fenster und hat uns beobachtet, Papa und mich. Und mittlerweile weiß ich auch, dass ich ihn schon von früher kenne. Er hat mich aus einer Kammer geholt, als ich ein kleines Mädchen war. Am Tag, als der letzte Pharao starb. Es war derselbe Mann, Ani! Ich bin ganz klar bei Verstand!«
»Das weiß ich doch!«, sagte er und berührte zart ihre Schultern, um sie zu beruhigen.
»Und er muss auch anwesend gewesen sein, als man Tutanchamun vergiften wollte! Er steckt dahinter oder er hat es sogar mit eigenen Händen getan …« Sie begann zu schluchzen. »Wie sollen wir das nur jemals beweisen?«
»Wir finden einen Weg«, sagte er sanft. Wie gern hätte er sie in diesem Moment in die Arme genommen!
»Versprochen?«, fragte sie und in ihren Augen lag eine ganze Welt.
»Versprochen!« Alles in Ani sehnte sich danach, diese Welt endlich entdecken zu dürfen.
ACHTES KAPITEL
D er schrille Katergesang vor dem Haus war verstummt. Bald schon würde Paus Bauch sich runden von der neuerlichen Schwangerschaft und schon längst beanspruchte sie wieder ihren gewohnten Platz in Mius Bett. Bislang hatte Miu es stets als beruhigend empfunden, den warmen Tierleib an den Füßen zu spüren, doch heute fand sie keinen Schlaf. Seit dem Giftanschlag im Palast vor einer Woche kreisten ihre Gedanken unablässig um jenen Abend. Dass Jamu das vergiftete Entenfleisch verweigert und damit das Leben des Pharaos gerettet hatte, erschien ihr wie ein kleines Wunder. Wie froh sie war, Tutanchamun den roten Kater geschenkt zu haben!
Aber was war danach Schreckliches geschehen!
Zwei Menschen hatten sterben müssen, die vermutlich gar nichts mit dem Gift im Essen zu tun hatten - und all die anderen Festteilnehmer hatten dabei zugesehen, sie selber eingeschlossen, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Das waren qualvolle Bilder, die sie nicht mehr loslassen wollten.
Irgendwann, noch vor dem Morgengrauen, hielt sie es nicht länger aus und schlich die Treppe hinauf zu ihrer Großmutter. Als kleines Mädchen war sie manchmal morgens
heimlich in ihr Bett geschlüpft - und genau das hatte sie jetzt auch vor. Zunächst schien alles nach Plan zu verlaufen: Mius nackte Sohlen tappten lautlos über die nächtlich kühlen Fliesen, und es gelang ihr sogar, die Tür zu öffnen, ohne dass sie wie üblich geknarrt hätte. Doch zu ihrer Überraschung schlief Raia nicht, sondern
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