Der Kuss des Anubis
zu sehen, war etwas ganz anderes. »Was sollen sie auch sonst den lieben langen Tag tun, wenn sie nur darauf lauern können, dass er ihnen irgendwann vielleicht seine Gunst schenkt? Da üben sie eben akrobatische Kunststücke ein, um sich die Zeit zu vertreiben!«
»Das würde ich niemals aushalten!«, stieß Miu hervor, als plötzlich eine kleine Nubierin neben ihr stand, dem Kindesalter kaum entwachsen.
»Die Große Königliche Gemahlin erwartet dich!«, piepste sie. »Folge mir!«
»Das muss ein Irrtum sein«, sagte Miu. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass …«
»Kein Irrtum!« Die Kleine schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre Jugendlocke tanzte. »Befehl!«
Miu erhob sich zögernd.
»Geh nur«, sagte Raia. »Von hier aus hab ich dich genau im Auge. Wenn irgendetwas geschehen sollte, das dir seltsam erscheint, hebst du einfach deinen Arm. Dann sind dein Vater und ich sofort bei dir. Dazu haben wir dich ja schließlich begleitet!«
Der Weg durch den Saal erschien Miu endlos.
Und waren nicht die Augen aller auf sie gerichtet? Wer mochten sie überhaupt sein, all diese Frauen und Männer, die hier so fröhlich speisten und tranken?
Einige erkannte sie beim Näherkommen wieder. Sepi, den Haushofmeister, der ihr beim ersten Besuch im Palast nicht recht hatte glauben wollen. Eje, dessen kantigen Charakterkopf sie niemals vergessen würde. Und General
Haremhab, der Raia damals ohne Zögern aus dem Teich gezogen hatte.
Unwillkürlich krampfte sich Mius Magen beim Anblick des Generals zusammen. Würde sie in seiner Nähe wieder den Mann mit dem Geierprofil finden?
Doch sosehr sie sich auch nach allen Seiten umsah, sie konnte das verhasste Traumbild nirgendwo entdecken.
Schließlich aber stand sie doch vor ihr - der Großen Königlichen Gemahlin, die sie zu sich befohlen hatte.
Aus den Augenwinkeln lugte Miu zum König.
Da war er wieder, jener dunkle Blick, der manchmal so schmelzend weich und dann wieder so gnadenlos sein konnte!
Ihr Herz schlug hart gegen die Rippen. Die ganze Zeit hatte sie sich alle erdenkliche Mühe gegeben, jeden Gedanken an ihn zu verbannen. Doch nun, da sie ihm so nah war, war alles mit einem Schlag wieder zurück: die weichen Knie, das Sausen in den Ohren, die Hände, die auf einmal nicht mehr ruhig bleiben wollten.
Anchesenamun ließ sich reichlich Zeit. Und als sie endlich zu reden begann, klang ihre Stimme beherrscht.
»Da haben wir sie ja, die kleine Lebensretterin, die nun schon einige Male unverhofft unsere Wege gekreuzt hat. Wir heißen dich im Palast der leuchtenden Sonne willkommen.«
Sollte Miu sich jetzt vor ihr zu Boden werfen? Doch der Platz vor dem Tisch war dafür viel zu schmal. Wenn es dumm ausging, könnte sie mit dem Kopf auf einer der silbernen Platten landen.
»Ich danke für die große Ehre dieser Einladung, Herrin«, sagte sie stattdessen und verneigte sich tief.
»Keine Ehre, Mädchen. Denn wir haben etwas mit dir vor.«
Langsam richtete Miu sich wieder auf. Was mochte das sein? Und wieso kam kein einziges Wort von Tutanchamun? Beim letzten Treffen hatte er noch unter ihr Kleid gegriffen und …
»Nimm Platz bei uns, Miu«, hörte sie ihn plötzlich sagen, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Denn hier ist noch jemand, der dich begrüßen möchte!«
Jamu war bereits auf Mius Schoß geklettert, während sie sich vorsichtig niedergelassen hatte, er schnupperte an ihren Beinen und begann, nach den Füßen zu angeln, die er vom Beginn seines jungen Daseins an offenbar für ganz und gar selbständige Lebewesen gehalten hatte. Miu unterdrückte einen Schmerzenslaut, als seine spitzen Krallen auf ihrem Rist die Haut aufritzten, was den Pharao zu amüsieren schien.
»Soll es dir anders gehen als mir? Sieh nur einmal meine Hände an, Miu!«, rief er und streckte sie weit von sich. »Diese Kratzer habe ich alle ihm zu verdanken. Und doch möchte ich ihn keinen Moment mehr missen!«
Zwei Diener kamen mit neuen Platten herein, auf denen ausgelöstes Entenfleisch aufgeschichtet war.
»Deine Lieblingsspeise, Goldhorus!«, sagte Anchesenamun mit sanftem Lächeln. Sie hatte ihren Bauch herausgestreckt, als wolle sie ihn aller Welt zeigen. Oder war die Schwangerschaft etwa schon viel weiter fortgeschritten, als Miu bislang gedacht hatte? »Eigens für dich am Spieß geröstet!«
Sie griff beherzt nach der Platte und legte ein Stück Fleisch vor den Pharao. Danach wandte sie sich Miu zu.
»Und du solltest auch davon probieren«, sagte sie. »Wenngleich
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