Der Kuss des Anubis
Kopf.
»Wie sehr wünschte ich, ich könnte dir anderes berichten! Wir haben sie alle verhört, genauso wie du es verlangt hast, jede lebende Seele im Palast und ebenso jeden der Gäste, die bei dem Festmahl anwesend waren.«
»Und ihr habt trotzdem nichts gefunden - gar nichts?« Auf sein knappes Nicken wurde ihm der nächste Pfeil gereicht. »Dann muss das Gift wohl ganz von selbst in das Entenfleisch gekommen sein. Ebenso wie die Kobra in meine Schmuckschatulle.« Sein Ton war gallenbitter geworden.
Tutanchamun zielte und schoss. Der Pfeil bohrte sich direkt neben den ersten. Plötzlich schrie er schmerzerfüllt auf. Doch schon im nächsten Augenblick begann er, lauthals zu lachen.
»Jamu, du kleines Ungeheuer!«, rief er, packte den roten Kater, der sich von hinten dreist in seine Wade gekrallt hatte, hob ihn hoch und schüttelte ihn. »Was stellst du nur immer an? Eines Tages werde ich dich noch aus Versehen tottreten, wenn du mich weiterhin so aus dem Hinterhalt attackierst.«
Der Kater begann zu schnurren, als der Pharao ihn kraulte.
»Mutig wie ein Löwe«, sagte er mit hörbarem Besitzerstolz, nachdem Jamu sich losgemacht hatte und davonsprang. »Geht seine eigenen Wege - aber wenn es darauf ankommt, folgt er mir wie der treueste Hund seinem Herrn. Ich hatte Anweisungen gegeben, ihn zum Dank,
dass er mein Leben gerettet hat, mit den köstlichsten Leckerbissen zu belohnen, er aber war bereits mit einem Schälchen Milch hochzufrieden. So bescheiden sollten alle sein, die mir dienen!«
»Inzwischen bin ich nicht untätig gewesen, Goldhorus.« In Ejes Tonfall schwang echte Sorge mit. »Alle Wachen sind verstärkt worden, ebenso die Patrouillen an den großen Straßen. Die Häfen stehen unter dauernder Bewachung. Unsere Spione haben ihr Netz erweitert und …«
»Wachen! Spione! Patrouillen - bin ich vielleicht ein Greis, der sich angstvoll hinter hohen Mauern ducken muss, oder bin ich der Pharao von Kemet? Ich kann kämpfen, das habe ich in Kusch bereits bewiesen. Ich werde wieder kämpfen!«
»Was um einiges einfacher ist, wenn man seinen Gegner kennt«, sagte Eje. »Wenn man allerdings nicht einmal weiß, mit wem man es zu tun hat …«
Der Pharao trat nun ganz nah vor ihn hin. Beide Männer waren ungefähr gleich groß, sodass sie sich direkt in die Augen schauen konnten.
»Bist du mein Freund oder bist du mein Gegner?« Tutanchamuns Stimme war kalt.
»Du kennst die Antwort, mein König.«
»Tue ich das? Oder könnte es nicht sein, dass du dich noch immer deiner toten Tochter verpflichtet fühlst, alter Mann, und daher in ihrem Sinne handelst? Die Wahrheit, Eje!«
»Niemand hat Nofretete besser gekannt als ich«, erwiderte Eje fest. »Und ebenso alle Schwächen meiner Tochter. Ihr war ich ein liebender Vater, Goldhorus, dir aber bin ich stets ein treuer Berater gewesen, von dem Tag an, wo
du als Junge den Thron bestiegen hast. Dir diene ich, Einzig-Einer. Dir - und dem Land Kemet!«
»Und die Schwächen deiner Enkelin? Kennst du die auch?«
»Anchesenamun ist ihrer Mutter sehr ähnlich. Ich denke, das weißt du seit Langem.«
»Frauen sind so launisch wie der Fluss«, sagte der Pharao. »Ist es nicht so? Im Sommer tritt er über die Ufer. Am besten, man wartet ab, bis es vorüber ist.«
Etwas schien ihn plötzlich abzulenken. Eje wandte den Kopf, um zu sehen, was es war. Sein Gesicht verdüsterte sich, als er den hochgewachsenen General erkannte, der sich rasch näherte.
»Ich komme gerade aus den Stallungen, mein Herr, du mögest leben, heil und gesund sein«, sagte er und verneigte sich. »Mit wundervollen Neuigkeiten. Die neuen Pferde sind eingetroffen - alles rassige Hengste!«
»Hengste?«, wiederholte Eje.
»Nun, mit Stuten kann man keinen Streitwagen lenken.« Haremhab klang herablassend. »Falls man das Alter dazu nicht ohnehin bei Weitem überschritten hat.« Er wandte sich dem Pharao zu. »Du wirst deine helle Freude an diesen Prachtburschen haben, Goldhorus!«
»Willst du etwa auch das Streitwagen-Fahren wieder aufnehmen?«, fragte Eje besorgt.
»Die Völker des Nordens werden lernen, vor mir zu zittern.« Der Pharao wandte sich zum Gehen. »Das betrifft vor allem das Reich von Mitanni*, das sich schon viel zu lange Frechheiten gegen Kemet herausnimmt, die nach der passenden Antwort geradezu schreien. Meinem Vater hat man vorgeworfen, er hätte sich tatenlos in der Sonnenstadt
verschanzt. Seinen einzigen Sohn aber wird man als siegreichen Feldherrn preisen!«
Auf einmal sah
Weitere Kostenlose Bücher