Der Kuss des Anubis
ist sofort weggerannt. Das hat den König misstrauisch gemacht und er hat ebenfalls nichts von dem Entenfleisch angerührt.«
»Und Miu?«, wollte Ani wissen. »Wie hat sie das alles verkraftet?«
»Ich mache mir Sorgen um sie, weißt du das?«, sagte Ramose. »Große Sorgen! Sie ist irgendwie verändert. Und das gefällt mir nicht.«
»Deine Tochter wird langsam erwachsen«, sagte Ani mit einem kleinen Lächeln und trank seinen Becher leer. »Ich glaube, das gefällt keinem Vater.«
»Es wäre leichter, hätte Miu noch ihre Mutter.« Der Blick des Balsamierers ließ ihn nicht mehr los. »Genau aus diesem Grund hab ich dich heute zu uns gebeten.«
»Um über Mius Mutter zu sprechen?« Ani schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, da kann ich dir nicht weiterhelfen. Ich war noch ein Kind, als Sadeh starb. An ihr Lachen erinnere ich mich allerdings noch recht gut. Und an die Art, wie sie sich bewegt hat. Als ob sie ständig tanzte. Meine Mutter hat oft davon gesprochen. Ich glaube, die beiden mochten sich sehr!«
»Ich möchte, dass du einen Brief für mich schreibst, Ani«, sagte Ramose. »Ich habe lange überlegt, ob ich dich darum bitten soll. Und jetzt tue ich es.«
Ani fuhr sich mit der Hand über den rasierten Schädel. »Wieso hast du nicht meinen Vater gefragt?«, sagte er. »Der wäre besser geeignet als ich.«
»Nefer hat abgelehnt. Wirst du mir helfen?«
Eine Weile war es still. Seitdem es so schnell zu Streitigkeiten zwischen ihnen kommen konnte, hatte Ani sich vorgenommen, die Hände von den Angelegenheiten seines Vaters zu lassen. Doch dieses Mal würde er eine Ausnahme machen. Noch nie zuvor hatte Ramose ihn so dringlich um etwas gebeten.
»Warum nicht?«, sagte Ani dann. »Wenngleich ich ziemlich aus der Übung bin. In Kusch gab es keine Gelegenheit, die Binse zu schwingen. Und mein Dienst bei der Polizei lässt mir ebenfalls kaum Gelegenheit dafür.« Sein Blick flog durch den Raum. »Wie ich dich kenne, hast du alles schon vorbereitet?«
»Das habe ich.« Ramose zog das Tuch vom Tisch - und da war alles, was ein Schreiber brauchte: Binsen, Tusche, Papyrus, Wasser. »Wir können gleich beginnen.«
»Das sollten wir, denn ich muss bald wieder zum Dienst.« Beinahe hätte er Ramose von seinen Schwierigkeiten mit Userkaf erzählt, doch das hätte jetzt nur unnötig Zeit gekostet. »Eine Meisterleistung wird es nicht werden, fürchte ich. Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«
»Man muss es lesen können, das genügt.«
»Dann lass hören, Ramose!«
Der Balsamierer schloss die Augen. Zuerst blieb er stumm, dann aber begannen die Worte aus ihm nur so herauszusprudeln, als wären sie hinter einem hohen Damm aufgestaut gewesen und hätten nur auf diesen Moment gewartet.
»Wir hatten damals vereinbart, dass Du nie wieder etwas von mir zu hören bekommen wirst, von den regelmäßigen finanziellen
Zuwendungen einmal abgesehen, die Deinen Unterhalt bestreiten. Dass ich sie ungefragt erhöht habe, wird Dir sicherlich nicht entgangen sein. Ich habe es freiwillig getan, weil ich dazu in der Lage bin und bestimmt auch in Mennefer alles immer teurer wird wie hier in Waset.
Du wolltest nie mehr etwas von mir hören - so und nicht anders war es vereinbart.Viele Jahre habe ich mich an diesen Teil der Abmachung gehalten. Doch jetzt muss ich mein Versprechen leider brechen. Gewisse Dinge haben sich ereignet, unvorhersehbare Dinge, die ich besser nicht dem Papyrus anvertraue, weil sie uns sonst alle in Gefahr bringen könnten.
Deshalb muss ich Dich heute bitten, Mennefer zu verlassen und Dich an Bord des nächsten Ruderschiffs umgehend nilaufwärts nach Waset zu begeben. Es wird alles andere als einfach sein, Miu mit der Wahrheit zu konfrontieren. All die Jahre ist sie in dem Glauben aufgewachsen, ihre Mutter sei tot …«
»Sadeh lebt?« Ani ließ die Binse sinken.
»Ja, wahrhaftig. An sie ist dieser Brief gerichtet.«
»Weiß Raia davon?« Ani wurde immer unruhiger. Ramose musste triftige Gründe für diese ungeheuerliche Lüge gehabt haben, mit der sie alle jahrelang gelebt hatten. Welchem Geheimnis kam er da gerade auf die Spur?
»Natürlich. Wie hätten wir sonst zusammen unter einem Dach leben können, all die langen Jahre?«
»Aber wieso habt ihr …«
»Schreib, Ani«, sagte Ramose müde. »Du ahnst nicht, wie wenig Zeit mir vielleicht noch bleibt!«
»… doch nun muss sie erfahren, dass Du am Leben bist und wir sie mit einer Lüge abgespeist haben. Ich weiß, was ich
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